teren
Weininger
ausserordentlich wichtig.
Weininger - 1923 - Tod
hnlich als Erlebnis
bezeichnet, irgend ein a? usseres Geschehnis, dient
nur dazu, sie von seelischen Vorga? ngen zu ent-
binden. Eine solche erlebnis- und konfliktschwangere
Natur war auch Weininger. Der Konflikt, in welchen
er geriet, war unvermeidlich; und es ist daher voll-
kommen gleichgu? ltig, aus welchem Anlass er zum
Ausbruch kam.
Allein -- und dies ist der eigentliche Gegen-
stand meiner Ausfu? hrungen -- dieser Konflikt, von
dem Weininger selbst am Ende seines Lebens so
gerne sprach und der ihm als ein vo? llig zureichender
Grund seines Lebensu? berdrusses erschien, er war es
nicht einmal, der ihn in den Tod trieb. Viele Tausende
vor ihm haben denselben Konflikt durchgemacht;
ja, man kann wohl sagen, dass er ein Wesensmerk-
mal jedes ho? herstehenden Menschen ist. Es wa? re
traurig um die Kultur der Menschheit bestellt, wenn
l*
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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der Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit -- um
keinen andern handelt es sich -- in allen Fa? llen zu
einem solchen Ende gefu? hrt ha? tte. Weininger glaubte
seinen Zustand ganz klar zu u? berblicken; indessen
befand er sich in einem argen Irrtum, der mit Natur-
notwendigkeit das Verha? ngnis herbeifu? hren musste.
An Weiningers Tod ist weder eine sensationelle
Tatsache schuld, wie die andern glauben, noch der
? ungeheure Konflikt", wie er selber glaubte, sondern
ein ganz eigen- und einzigartige innere Situation,
eine innere Schwierigkeit, die wirklich noch nicht
ihresgleichen gehabt haben du? rfte. Wie sich diese
Situation entwickelte, aus der es tatsa? chlich keinen
lettenden Ausweg gab, wenigstens nicht fu? r den
Ehrgeizigen, Stolzen, eben beru? hmt Gewordenen,
das soll hier dargelegt werden. Es ist hierbei vor
allem notwendig, die Entstehung von ? Geschlecht
und Charakter" Schritt fu? r Schritt zu verfolgen.
An Weiningers Hauptwerk lassen sich deutlich
drei Teile unterscheiden: ein naturwissenschaftlicher,
ein philosophischer und ein antifeministischer. In
dieser Reihenfolge sind sie auch entstanden und im
Buche angeordnet, wiewohl die mehrfache U? ber-
arbeitung stellenweise eine ? Sto? rung der Schichten",
um einen Ausdruck der Geologie zu gebrauchen, mit
sich brachte. So ist z. B. das Kapitel u? ber das Ich-
Problem mit weiberfeindlichen Bemerkungen unter-
setzt, die erst aus einer spa? teren Zeit stammen.
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>>
Der Beginn des Werkes fa? llt in den Herbst des
Jahres 1900. Weininger wurde damals auf das Faktum
der Bisexualita? t aufmerksam und begann alsbald
mit Feuereifer Material daru? ber zu sammeln. Mit
der ihm eigenen Findigkeit hatte er in kurzer Zeit
eine Menge von Belegen gesammelt zur Unter-
stu? tzung der These, die ihn damals noch ausschliess-
lich bescha? ftigte: Dass es eigentlich keine Ma? nner und
Weiber gibt, sondern nur ma? nnliche und weibliche
Substanz, und dass jedes Individuum eine Mischung
aus diesen beiden Substanzen ist. Im Ja? nner 1901
kam er ganz selbsta? ndig auf das Gesetz der sexuellen
Anziehung. In den folgenden Monaten bescha? ftigten
ihn naheliegende Nutzanwendungen seiner Ent-
deckung: auf die Emanzipationsbewegung, auf das
Problem der Homosexualita? t usw. Der Charakter
seiner Forschung war damals durchaus naturwissen-
schaftlich. Ich erinnere mich, dass er viel von
Experimenten sprach, die er im zoologischen Institut
anstellen wollte. Aus jener Zeit stammt auch, wenn
ich nicht irre, der Exkurs u? ber die Schilddru? se.
Im Sommer 1901 schrieb Weininger in einem
kleinen Lusthaus in Purkersdorf binnen zwei Wochen
zum erstenmal seine Gedanken u? ber den Gegen-
stand nieder. Das Manuskript war beila? ufig 120 Bogen-
seiten stark und enthielt das, was jetzt in ? Geschlecht
und Charakter" im Abschnitt u? ber die sexuelle
Mannigfaltigkeit steht. Dieses Manuskript war nicht
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nur dem Inhalt, sondern auch der Schreibweise nach
ganz naturwissenschaftlich. Es war mit grosser Frische,
stellenweise burschikos und humorvoll geschrieben.
Auch, wo sich Gelegenheit geboten ha? tte, wie z. B.
bei Besprechung der Frauenemanzipation, fiel es
Weininger nicht ein, in dem geha? ssigen Ton zu
reden, der ihm spa? ter eigen war. Der Stil, in dem er
damals schrieb, entsprach noch ganz dem behandelten
Gegenstande. U? ber naturwissenschaftliche Tatsachen
braucht man sich nicht zu erhitzen, denn man kann
sie beweisen. Und was naturwissenschaftlich er-
wiesen ist, das ist schon darum allein verso? hnlich.
Das ist kein Naturforscher, der der Natur wegen
irgend einer Tatsache grollt.
Wer Weininger nur aus seinen Schriften kennt,
der macht sich keine Vorstellung, wie er zu jener
Zeit war. Gespra? che u? ber schwierige philosophische
Gegensta? nde waren immer sein ho? chstes Vergnu? gen;
unermu? dlich brachte er bei unseren ha? ufigen Zu-
sammenku? nften bis in die spa? te Nacht, manchmal
auch bis zum Morgen, ein Kreuzproblem nach dem
andern zur Diskussion. Abstrakte Regionen, aus denen
sich andere gar bald frierend zuru? ckziehen, waren
seine eigentliche Heimat. Er war, kurz gesagt, ein
passionierter Denker, der Typus des Denkers. Da-
bei hatte er aber zu jener Zeit noch gar nichts von
einem Gru? bler. Sein Denken war die frisch-fro? hliche
Beta? tigung einer grossen Fa? higkeit und machte einen
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so wohlgefa? lligen Eindruck wie etwa die sportliche
Beta? tigung eines muskelkra? ftigen Menschen. Es war
ein spielerisches Denken, dem jede Tendenz fehlte;
ein vo? llig reines, freies Denken.
Es gibt kaum einen wichtigeren Unterschied im
Reiche der Gedanken als den zwischen freien und
unfreien oder, wie man auch sagen ko? nnte, zwischen
eigenberechtigten und dienstbaren Gedanken. Der
freie Gedanke erha? lt seine Richtung vom Gegen-
stand des Denkens, der unfreie vom Zustand des
Denkers. Zum freien Denken geho? rt ein lauteres
Herz und ein unbeku? mmertes Gemu? t. Der in seinem
Empfinden Gekra? nkte oder in seinem Streben Ge-
hemmte mag seinen Zustand noch so klar erkennen:
er wird mit der gro? ssten Wachsamkeit sein Denken
doch nicht immer vor den Intriguen der Gefu? hls-
kamarilla zu schu? tzen vermo? gen. Es ist verha? ltnis-
ma? ssig leicht, ein Freigeist in dem Sinn zu sein,
dass man dem Einfluss a? usserer Ma? chte trotzt; viel
schwerer ist es, die Unabha? ngigkeit des Denkens
vor den dunklen Ma? chten im eigenen Innern zu
bewahren. Was da an ungea? usserten Gefu? hlen und
unbefriedigten Trieben rumort, sucht alles vermittelst
der Gedanken unauffa? llig nach aussen zu gelangen.
Gefu? hle und Triebe haben eigentlich keine Sprache;
die Rede ist fu? r sie nur ein Notausgang.
Auf diese Art wird weitaus der gro? sste Teil aller
Gedanken verfa? lscht. Diese verfa? lschten Gedanken
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offenbaren natu? rlich keine objektive, sondern nur
eine subjektive Wahrheit; man erfa? hrt durch sie
wenig u? ber die Welt, aber viel u? ber die Person des
Denkers. Lautere Gedanken geben ein Weltbild, ge-
fa? lschte Gedanken das Portra? t einer Perso? nlichkeit.
Der lautere Gedanke entha? lt eine unperso? nliche Er-
kenntnis, der gefa? lschte ein perso? nliches Bekenntnis.
Ein richtiger Gedanke ist so farblos anzuschauen
und so erfrischend zu geniessen wie Wasser. Stimmungs-
kolorit ist verda? chtig; desgleichen ist Temperament
bei Gedanken eine tru? gerische Marke.
Diese Feststellungen sind fu? r das Versta? ndnis
des spa?
teren Weininger ausserordentlich wichtig. Ich
werde noch ausfu? hrlicher darauf zuru? ckkommen. Doch
mag der Sachverhalt schon hier mit einigen Strichen
dargelegt werden. Weiningers Gedanken enthielten
urspru? nglich gar nichts Perso? nliches, zum Schluss
nur Perso? nliches. Die Erkenntnis trat immer mehr
hinter dem Erlebnis zuru? ck. Namentlich die ? letzten
Dinge" enthalten vielfach nur mehr biographisches
Material, allerdings nicht unmittelbar, sondern in
Gedanken der fru? her geschilderten Art chiffriert.
Weininger war freilich von der objektiven Richtig-
keit seiner Gedanken u? berzeugt; in dieser U? ber-
zeugung unterliess er jegliche Kontrolle und so
konnten denn seine Stimmungen und Triebe mit
den Gedanken ganz ungesto? rt Missbrauch treiben
und sich ungeniert durch sie a? ussern. Eine Ahnung
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von diesem Sachverhalt hatte er allerdings; es ist
bei seinem Scharfblick fu? r Zusammenha? nge im
Seelenleben gar nicht anders denkbar. Darum
konnte er auch, wenn man ihn auf illegitime Ein-
flu? sse in seinem Denken aufmerksam machte, so
heftig werden.
Allein in jenem Sommer 1901 war von alledem,
noch keine Spur wahrzunehmen. Die unheimlichen
Ma? chte, welche spa? ter auf Schleichwegen zur Herr-
schaft u? ber die Gedanken gelangten, schlummerten
noch. Weininger hatte damals bei all seiner fru? h-
reifen Gedankenvirtuosita? t und seiner Gelehrsamkeit
etwas Kindliches in seinem Wesen. Er war vom
Leben noch unberu? hrt, geschweige denn gezeichnet.
Er hatte schon einen ausgesprochenen Beruf, aber
ein Schicksal ha? tte man ihm, wie er so emsig immer
bei der Sache war, gar nicht zugetraut.
Mit diesem Seelenzustande stimmten auch seine
Lebensgewohnheiten u? berein: kaum eine Spur der
spa? teren Genussfeindlichkeit, wohl aber arglose Sinnes-
freudigkeit. Er war in dieser Hinsicht nicht sehr
selbsta? ndig und spontan; aber wenn er z. B. bei
einem Gelage mittat, so machte er durchaus nicht
den Eindruck eines Geno? tigten. Die Lebensfreude
war ihm keineswegs, wie manche seiner Bekannten
behauptet haben, wesensfremd.
So war Weininger, als ich ihn im Herbste des
Jahres 1901 verliess und auf zwei Semester fortging;
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wir schrieben einander in dieser Zeit sehr oft und
viel; u? brigens war ich auch einige Male in Wien,
wir verbrachten dann immer ganze Tage und halbe
Na? chte nach alter Gewohnheit in Gespra? chen. Hier-
bei konstatierte ich nun gar bald, dass mit Weininger
eine Vera? nderung vorgegangen war. Es interessierten
ihn ganz andere Probleme als fru? her; von M und
W war natu? rlich noch immer die Rede, viel mehr
aber vom intelligiblen Ich, u? berhaupt von der Kant-
schen Moralphilosophie und verwandten Gegen-
sta? nden. Es waren vorwiegend ethische Probleme,
welche Weininger in dieser Zeit absorbierten. Gleich-
zeitig mit den Problemen wechselte auch seine
Methode; er verliess die naturwissenschaftlich-
beobachtende und wandte sich der philosophisch-
deduzierenden zu, die spa? ter zur diktatorischen
wurde.
Weininger selbst war sehr stolz auf diese Wand-
lung. Es dauerte gar nicht lange, so sah er auf
seine naturwissenschaftliche Epoche mit fo? rmlicher
Verachtung zuru? ck und spa? terhin ha? tte er sie am
liebsten verleugnet. Ich war mit den gea? nderten
Verha? ltnissen nicht einverstanden und machte Wei-
ninger daraus kein Hehl. Der Grund meines Miss-
vergnu? gens lag zum Teil vermutlich in mir selber:
ich hatte gerade meine exakte Epoche und war fu? r
Spekulationen weniger empfa? nglich als sonst. Aber
der Hauptgrund war doch ein anderer. Ehe ich mich
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seiner Darlegung zuwende, mo? gen einige allgemeine
Bemerkungen Platz finden u? ber solche Wandlungen,
wie Weininger damals eine durchmachte.
Ich muss erwa? hnen, dass ich hieru? ber vor Jahren
noch anders dachte als heute. Damals schob ich
Weiningers Interessenwechsel zum Teil auf den Um-
gang mit neuen Freunden, zum Teil auf die a? ussere
Notwendigkeit -- er stand damals im vorletzten Se-
mester --, sich mehr mit Philosophie zu bescha? ftigen.
Allein, bei einem Genius wie Weininger konnte
a? usseren Umsta? nden ho? chstens eine fo? rdernde Wirkung
zukommen. Der Interessenwechsel ist etwas, was sich
ganz spontan vollzieht ebenso wie der Wechsel der
Launen. Man nehme Schaffende irgendwelchen Ge-
bietes her, so wird man an den Stoffen, die sie
wa? hlen, an den Problemen, die sie bearbeiten, eine
deutliche Schwankung wahrnehmen, deren genaue
Beschreibung und Erkla? rung fu? r eine zuku? nftige
Psychologie ein sehr scho? nes Thema ist. Ganz all-
gemein kann man sagen, es wechseln nu? chterne
und begeisterte, tiefe und oberfla? chliche Zeiten,
irdische Interessen mit u? berirdischen, naturwissen-
schaftliche Studien mit philosophischen. Die Plo? tz-
lichkeit dieses Wechsels, welche den meisten auf
einen a? usseren Einfluss hinzuweisen scheint, ist ge-
rade ein Beweis seiner inneren Bedingtheit. Auch
die Launen haben ihren Wettersturz; und was ich
hier als Interessenwechsel bezeichnet habe, ist eigent-
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lieh nichts als die Launenhaftigkeit, auf einem be-
stimmten Gebiete gea? ussert.
Die Folgen eines solchen Interessenwechsels
ko? nnen bei einem produktiven Menschen von zwei-
facher Art sein: Entweder wechselt er den Gegen-
stand seiner Bescha? ftigung oder er behandelt den-
selben Gegenstand von verschiedenen Gesichts-
punkten. Man nimmt den Gegenstand durch alle
Zusta? nde mit, von der Oberfla? chlichkeit bis zur
Tiefe, und gewinnt auf diese Weise alle mo? glichen
Ansichten, die in ihrer Gesamtheit die Einsicht
ergeben -- die Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts
Einfaches; sie ko? nnte nur dann einfach sein, wenn
es einen einzigen Zustand ga? be. Es gibt aber ihrer
eine ganze Anzahl -- vielleicht sieben --, die nicht
von aussen hervorgerufen werden, sondern vo? llig
spontan auftreten und einander in unvera? nderlicher
Ordnung folgen. So viele Zusta? nde, so viele An-
sichten. Es gibt nichts auf der Welt, woru? ber
man nicht die extremsten Ansichten a? ussern ko? nnte.
Diese Ansichten sind den Farben vergleichbar, aus
denen sich das weisse Licht zusammensetzt; die
sonnenhelle Einsicht, die Wahrheit, entsteht durch
die Zusammenfassung aller Ansichten. Man spricht
nicht mit Unrecht von einer individuellen Fa? rbung
der Gedanken; man ko? nnte ebenso gut von einer
Fa? rbung durch die jeweilige Laune sprechen.
Die Wahrheit wird meistens von mehreren zu-
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sammen, selten von einem allein gefunden. Die
ganze Wahrheit kann nur derjenige finden, der alle
menschlichen Zusta? nde kennt; dem nichts Mensch-
liches fremd ist. Nur wer alle mo? glichen Zusta? nde
hat, sieht eine Tatsache der Reihe nach in allen
mo? glichen Beleuchtungen. Doch ist dieser Fall selten;
meistens sind die verschiedenen Zusta? nde auf ver-
schiedene Individuen verteilt; der eine z. B. sieht
nur die Oberfla? che, der andere nur die Tiefe. Die
meisten Menschen sind einseitig; was nicht hindert,
dass sie in ihrer Art vollkommen sind. Sie sind ein-
seitig und beschra? nkt, das heisst, sie haben nur An-
sichten und keine Einsicht. Es gibt nicht nur be-
schra? nkte oberfla? chliche, sondern auch beschra? nkte
tiefe Menschen. Philosophen sind so ha? ufig keine
V/eisen, weil sie die Welt nicht auch oberfla? chlich
kennen.
Um nun an den Ausgangspunkt dieser Betrach-
tungen zuru? ckzukehren: Weininger war von der
Naturwissenschaft zur Philosophie, von feiner Beob-
achtung zu ku? hner Spekulation u? bergegangen. Er
hat alles, was ihm in dieser Zeit einfiel, spa? terhin
in sein Buch aufgenommen. Vieles davon steht mit
der Leitidee nur in losem Zusammenhange. Manches
aber, wie z. B. die Gedanken u? ber das Ich-Problem,
sind auf M und W geflissentlich angewendet. Bei
diesen angewendeten Gedanken entsteht nun die
eben vorbereitete Frage: Sind sie eine neue tiefere
?
bezeichnet, irgend ein a? usseres Geschehnis, dient
nur dazu, sie von seelischen Vorga? ngen zu ent-
binden. Eine solche erlebnis- und konfliktschwangere
Natur war auch Weininger. Der Konflikt, in welchen
er geriet, war unvermeidlich; und es ist daher voll-
kommen gleichgu? ltig, aus welchem Anlass er zum
Ausbruch kam.
Allein -- und dies ist der eigentliche Gegen-
stand meiner Ausfu? hrungen -- dieser Konflikt, von
dem Weininger selbst am Ende seines Lebens so
gerne sprach und der ihm als ein vo? llig zureichender
Grund seines Lebensu? berdrusses erschien, er war es
nicht einmal, der ihn in den Tod trieb. Viele Tausende
vor ihm haben denselben Konflikt durchgemacht;
ja, man kann wohl sagen, dass er ein Wesensmerk-
mal jedes ho? herstehenden Menschen ist. Es wa? re
traurig um die Kultur der Menschheit bestellt, wenn
l*
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der Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit -- um
keinen andern handelt es sich -- in allen Fa? llen zu
einem solchen Ende gefu? hrt ha? tte. Weininger glaubte
seinen Zustand ganz klar zu u? berblicken; indessen
befand er sich in einem argen Irrtum, der mit Natur-
notwendigkeit das Verha? ngnis herbeifu? hren musste.
An Weiningers Tod ist weder eine sensationelle
Tatsache schuld, wie die andern glauben, noch der
? ungeheure Konflikt", wie er selber glaubte, sondern
ein ganz eigen- und einzigartige innere Situation,
eine innere Schwierigkeit, die wirklich noch nicht
ihresgleichen gehabt haben du? rfte. Wie sich diese
Situation entwickelte, aus der es tatsa? chlich keinen
lettenden Ausweg gab, wenigstens nicht fu? r den
Ehrgeizigen, Stolzen, eben beru? hmt Gewordenen,
das soll hier dargelegt werden. Es ist hierbei vor
allem notwendig, die Entstehung von ? Geschlecht
und Charakter" Schritt fu? r Schritt zu verfolgen.
An Weiningers Hauptwerk lassen sich deutlich
drei Teile unterscheiden: ein naturwissenschaftlicher,
ein philosophischer und ein antifeministischer. In
dieser Reihenfolge sind sie auch entstanden und im
Buche angeordnet, wiewohl die mehrfache U? ber-
arbeitung stellenweise eine ? Sto? rung der Schichten",
um einen Ausdruck der Geologie zu gebrauchen, mit
sich brachte. So ist z. B. das Kapitel u? ber das Ich-
Problem mit weiberfeindlichen Bemerkungen unter-
setzt, die erst aus einer spa? teren Zeit stammen.
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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Der Beginn des Werkes fa? llt in den Herbst des
Jahres 1900. Weininger wurde damals auf das Faktum
der Bisexualita? t aufmerksam und begann alsbald
mit Feuereifer Material daru? ber zu sammeln. Mit
der ihm eigenen Findigkeit hatte er in kurzer Zeit
eine Menge von Belegen gesammelt zur Unter-
stu? tzung der These, die ihn damals noch ausschliess-
lich bescha? ftigte: Dass es eigentlich keine Ma? nner und
Weiber gibt, sondern nur ma? nnliche und weibliche
Substanz, und dass jedes Individuum eine Mischung
aus diesen beiden Substanzen ist. Im Ja? nner 1901
kam er ganz selbsta? ndig auf das Gesetz der sexuellen
Anziehung. In den folgenden Monaten bescha? ftigten
ihn naheliegende Nutzanwendungen seiner Ent-
deckung: auf die Emanzipationsbewegung, auf das
Problem der Homosexualita? t usw. Der Charakter
seiner Forschung war damals durchaus naturwissen-
schaftlich. Ich erinnere mich, dass er viel von
Experimenten sprach, die er im zoologischen Institut
anstellen wollte. Aus jener Zeit stammt auch, wenn
ich nicht irre, der Exkurs u? ber die Schilddru? se.
Im Sommer 1901 schrieb Weininger in einem
kleinen Lusthaus in Purkersdorf binnen zwei Wochen
zum erstenmal seine Gedanken u? ber den Gegen-
stand nieder. Das Manuskript war beila? ufig 120 Bogen-
seiten stark und enthielt das, was jetzt in ? Geschlecht
und Charakter" im Abschnitt u? ber die sexuelle
Mannigfaltigkeit steht. Dieses Manuskript war nicht
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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nur dem Inhalt, sondern auch der Schreibweise nach
ganz naturwissenschaftlich. Es war mit grosser Frische,
stellenweise burschikos und humorvoll geschrieben.
Auch, wo sich Gelegenheit geboten ha? tte, wie z. B.
bei Besprechung der Frauenemanzipation, fiel es
Weininger nicht ein, in dem geha? ssigen Ton zu
reden, der ihm spa? ter eigen war. Der Stil, in dem er
damals schrieb, entsprach noch ganz dem behandelten
Gegenstande. U? ber naturwissenschaftliche Tatsachen
braucht man sich nicht zu erhitzen, denn man kann
sie beweisen. Und was naturwissenschaftlich er-
wiesen ist, das ist schon darum allein verso? hnlich.
Das ist kein Naturforscher, der der Natur wegen
irgend einer Tatsache grollt.
Wer Weininger nur aus seinen Schriften kennt,
der macht sich keine Vorstellung, wie er zu jener
Zeit war. Gespra? che u? ber schwierige philosophische
Gegensta? nde waren immer sein ho? chstes Vergnu? gen;
unermu? dlich brachte er bei unseren ha? ufigen Zu-
sammenku? nften bis in die spa? te Nacht, manchmal
auch bis zum Morgen, ein Kreuzproblem nach dem
andern zur Diskussion. Abstrakte Regionen, aus denen
sich andere gar bald frierend zuru? ckziehen, waren
seine eigentliche Heimat. Er war, kurz gesagt, ein
passionierter Denker, der Typus des Denkers. Da-
bei hatte er aber zu jener Zeit noch gar nichts von
einem Gru? bler. Sein Denken war die frisch-fro? hliche
Beta? tigung einer grossen Fa? higkeit und machte einen
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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so wohlgefa? lligen Eindruck wie etwa die sportliche
Beta? tigung eines muskelkra? ftigen Menschen. Es war
ein spielerisches Denken, dem jede Tendenz fehlte;
ein vo? llig reines, freies Denken.
Es gibt kaum einen wichtigeren Unterschied im
Reiche der Gedanken als den zwischen freien und
unfreien oder, wie man auch sagen ko? nnte, zwischen
eigenberechtigten und dienstbaren Gedanken. Der
freie Gedanke erha? lt seine Richtung vom Gegen-
stand des Denkens, der unfreie vom Zustand des
Denkers. Zum freien Denken geho? rt ein lauteres
Herz und ein unbeku? mmertes Gemu? t. Der in seinem
Empfinden Gekra? nkte oder in seinem Streben Ge-
hemmte mag seinen Zustand noch so klar erkennen:
er wird mit der gro? ssten Wachsamkeit sein Denken
doch nicht immer vor den Intriguen der Gefu? hls-
kamarilla zu schu? tzen vermo? gen. Es ist verha? ltnis-
ma? ssig leicht, ein Freigeist in dem Sinn zu sein,
dass man dem Einfluss a? usserer Ma? chte trotzt; viel
schwerer ist es, die Unabha? ngigkeit des Denkens
vor den dunklen Ma? chten im eigenen Innern zu
bewahren. Was da an ungea? usserten Gefu? hlen und
unbefriedigten Trieben rumort, sucht alles vermittelst
der Gedanken unauffa? llig nach aussen zu gelangen.
Gefu? hle und Triebe haben eigentlich keine Sprache;
die Rede ist fu? r sie nur ein Notausgang.
Auf diese Art wird weitaus der gro? sste Teil aller
Gedanken verfa? lscht. Diese verfa? lschten Gedanken
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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offenbaren natu? rlich keine objektive, sondern nur
eine subjektive Wahrheit; man erfa? hrt durch sie
wenig u? ber die Welt, aber viel u? ber die Person des
Denkers. Lautere Gedanken geben ein Weltbild, ge-
fa? lschte Gedanken das Portra? t einer Perso? nlichkeit.
Der lautere Gedanke entha? lt eine unperso? nliche Er-
kenntnis, der gefa? lschte ein perso? nliches Bekenntnis.
Ein richtiger Gedanke ist so farblos anzuschauen
und so erfrischend zu geniessen wie Wasser. Stimmungs-
kolorit ist verda? chtig; desgleichen ist Temperament
bei Gedanken eine tru? gerische Marke.
Diese Feststellungen sind fu? r das Versta? ndnis
des spa?
teren Weininger ausserordentlich wichtig. Ich
werde noch ausfu? hrlicher darauf zuru? ckkommen. Doch
mag der Sachverhalt schon hier mit einigen Strichen
dargelegt werden. Weiningers Gedanken enthielten
urspru? nglich gar nichts Perso? nliches, zum Schluss
nur Perso? nliches. Die Erkenntnis trat immer mehr
hinter dem Erlebnis zuru? ck. Namentlich die ? letzten
Dinge" enthalten vielfach nur mehr biographisches
Material, allerdings nicht unmittelbar, sondern in
Gedanken der fru? her geschilderten Art chiffriert.
Weininger war freilich von der objektiven Richtig-
keit seiner Gedanken u? berzeugt; in dieser U? ber-
zeugung unterliess er jegliche Kontrolle und so
konnten denn seine Stimmungen und Triebe mit
den Gedanken ganz ungesto? rt Missbrauch treiben
und sich ungeniert durch sie a? ussern. Eine Ahnung
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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von diesem Sachverhalt hatte er allerdings; es ist
bei seinem Scharfblick fu? r Zusammenha? nge im
Seelenleben gar nicht anders denkbar. Darum
konnte er auch, wenn man ihn auf illegitime Ein-
flu? sse in seinem Denken aufmerksam machte, so
heftig werden.
Allein in jenem Sommer 1901 war von alledem,
noch keine Spur wahrzunehmen. Die unheimlichen
Ma? chte, welche spa? ter auf Schleichwegen zur Herr-
schaft u? ber die Gedanken gelangten, schlummerten
noch. Weininger hatte damals bei all seiner fru? h-
reifen Gedankenvirtuosita? t und seiner Gelehrsamkeit
etwas Kindliches in seinem Wesen. Er war vom
Leben noch unberu? hrt, geschweige denn gezeichnet.
Er hatte schon einen ausgesprochenen Beruf, aber
ein Schicksal ha? tte man ihm, wie er so emsig immer
bei der Sache war, gar nicht zugetraut.
Mit diesem Seelenzustande stimmten auch seine
Lebensgewohnheiten u? berein: kaum eine Spur der
spa? teren Genussfeindlichkeit, wohl aber arglose Sinnes-
freudigkeit. Er war in dieser Hinsicht nicht sehr
selbsta? ndig und spontan; aber wenn er z. B. bei
einem Gelage mittat, so machte er durchaus nicht
den Eindruck eines Geno? tigten. Die Lebensfreude
war ihm keineswegs, wie manche seiner Bekannten
behauptet haben, wesensfremd.
So war Weininger, als ich ihn im Herbste des
Jahres 1901 verliess und auf zwei Semester fortging;
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wir schrieben einander in dieser Zeit sehr oft und
viel; u? brigens war ich auch einige Male in Wien,
wir verbrachten dann immer ganze Tage und halbe
Na? chte nach alter Gewohnheit in Gespra? chen. Hier-
bei konstatierte ich nun gar bald, dass mit Weininger
eine Vera? nderung vorgegangen war. Es interessierten
ihn ganz andere Probleme als fru? her; von M und
W war natu? rlich noch immer die Rede, viel mehr
aber vom intelligiblen Ich, u? berhaupt von der Kant-
schen Moralphilosophie und verwandten Gegen-
sta? nden. Es waren vorwiegend ethische Probleme,
welche Weininger in dieser Zeit absorbierten. Gleich-
zeitig mit den Problemen wechselte auch seine
Methode; er verliess die naturwissenschaftlich-
beobachtende und wandte sich der philosophisch-
deduzierenden zu, die spa? ter zur diktatorischen
wurde.
Weininger selbst war sehr stolz auf diese Wand-
lung. Es dauerte gar nicht lange, so sah er auf
seine naturwissenschaftliche Epoche mit fo? rmlicher
Verachtung zuru? ck und spa? terhin ha? tte er sie am
liebsten verleugnet. Ich war mit den gea? nderten
Verha? ltnissen nicht einverstanden und machte Wei-
ninger daraus kein Hehl. Der Grund meines Miss-
vergnu? gens lag zum Teil vermutlich in mir selber:
ich hatte gerade meine exakte Epoche und war fu? r
Spekulationen weniger empfa? nglich als sonst. Aber
der Hauptgrund war doch ein anderer. Ehe ich mich
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seiner Darlegung zuwende, mo? gen einige allgemeine
Bemerkungen Platz finden u? ber solche Wandlungen,
wie Weininger damals eine durchmachte.
Ich muss erwa? hnen, dass ich hieru? ber vor Jahren
noch anders dachte als heute. Damals schob ich
Weiningers Interessenwechsel zum Teil auf den Um-
gang mit neuen Freunden, zum Teil auf die a? ussere
Notwendigkeit -- er stand damals im vorletzten Se-
mester --, sich mehr mit Philosophie zu bescha? ftigen.
Allein, bei einem Genius wie Weininger konnte
a? usseren Umsta? nden ho? chstens eine fo? rdernde Wirkung
zukommen. Der Interessenwechsel ist etwas, was sich
ganz spontan vollzieht ebenso wie der Wechsel der
Launen. Man nehme Schaffende irgendwelchen Ge-
bietes her, so wird man an den Stoffen, die sie
wa? hlen, an den Problemen, die sie bearbeiten, eine
deutliche Schwankung wahrnehmen, deren genaue
Beschreibung und Erkla? rung fu? r eine zuku? nftige
Psychologie ein sehr scho? nes Thema ist. Ganz all-
gemein kann man sagen, es wechseln nu? chterne
und begeisterte, tiefe und oberfla? chliche Zeiten,
irdische Interessen mit u? berirdischen, naturwissen-
schaftliche Studien mit philosophischen. Die Plo? tz-
lichkeit dieses Wechsels, welche den meisten auf
einen a? usseren Einfluss hinzuweisen scheint, ist ge-
rade ein Beweis seiner inneren Bedingtheit. Auch
die Launen haben ihren Wettersturz; und was ich
hier als Interessenwechsel bezeichnet habe, ist eigent-
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lieh nichts als die Launenhaftigkeit, auf einem be-
stimmten Gebiete gea? ussert.
Die Folgen eines solchen Interessenwechsels
ko? nnen bei einem produktiven Menschen von zwei-
facher Art sein: Entweder wechselt er den Gegen-
stand seiner Bescha? ftigung oder er behandelt den-
selben Gegenstand von verschiedenen Gesichts-
punkten. Man nimmt den Gegenstand durch alle
Zusta? nde mit, von der Oberfla? chlichkeit bis zur
Tiefe, und gewinnt auf diese Weise alle mo? glichen
Ansichten, die in ihrer Gesamtheit die Einsicht
ergeben -- die Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts
Einfaches; sie ko? nnte nur dann einfach sein, wenn
es einen einzigen Zustand ga? be. Es gibt aber ihrer
eine ganze Anzahl -- vielleicht sieben --, die nicht
von aussen hervorgerufen werden, sondern vo? llig
spontan auftreten und einander in unvera? nderlicher
Ordnung folgen. So viele Zusta? nde, so viele An-
sichten. Es gibt nichts auf der Welt, woru? ber
man nicht die extremsten Ansichten a? ussern ko? nnte.
Diese Ansichten sind den Farben vergleichbar, aus
denen sich das weisse Licht zusammensetzt; die
sonnenhelle Einsicht, die Wahrheit, entsteht durch
die Zusammenfassung aller Ansichten. Man spricht
nicht mit Unrecht von einer individuellen Fa? rbung
der Gedanken; man ko? nnte ebenso gut von einer
Fa? rbung durch die jeweilige Laune sprechen.
Die Wahrheit wird meistens von mehreren zu-
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sammen, selten von einem allein gefunden. Die
ganze Wahrheit kann nur derjenige finden, der alle
menschlichen Zusta? nde kennt; dem nichts Mensch-
liches fremd ist. Nur wer alle mo? glichen Zusta? nde
hat, sieht eine Tatsache der Reihe nach in allen
mo? glichen Beleuchtungen. Doch ist dieser Fall selten;
meistens sind die verschiedenen Zusta? nde auf ver-
schiedene Individuen verteilt; der eine z. B. sieht
nur die Oberfla? che, der andere nur die Tiefe. Die
meisten Menschen sind einseitig; was nicht hindert,
dass sie in ihrer Art vollkommen sind. Sie sind ein-
seitig und beschra? nkt, das heisst, sie haben nur An-
sichten und keine Einsicht. Es gibt nicht nur be-
schra? nkte oberfla? chliche, sondern auch beschra? nkte
tiefe Menschen. Philosophen sind so ha? ufig keine
V/eisen, weil sie die Welt nicht auch oberfla? chlich
kennen.
Um nun an den Ausgangspunkt dieser Betrach-
tungen zuru? ckzukehren: Weininger war von der
Naturwissenschaft zur Philosophie, von feiner Beob-
achtung zu ku? hner Spekulation u? bergegangen. Er
hat alles, was ihm in dieser Zeit einfiel, spa? terhin
in sein Buch aufgenommen. Vieles davon steht mit
der Leitidee nur in losem Zusammenhange. Manches
aber, wie z. B. die Gedanken u? ber das Ich-Problem,
sind auf M und W geflissentlich angewendet. Bei
diesen angewendeten Gedanken entsteht nun die
eben vorbereitete Frage: Sind sie eine neue tiefere
?
