sen Menschen
hingegen
bleibt
nichts u?
nichts u?
Weininger - 1923 - Tod
hlte sich als Verbrecher -- und sofort
fiel ihm eine Menge u? ber den Verbrecher ein, nur
nichts, was ihn u? ber die Herkunft seines vera? nderten
Wesens aufgekla? rt und eine Wiederherstellung er-
mo? glicht ha? tte. Seine Gedanken befestigten ihn nur
in seinen Zusta? nden; und gerade an den Gedanken,
die ihm diesen schlechten Dienst erwiesen, hatte
er ein so unseliges Wohlgefallen. --
Verbrecherische Neigungen sind nicht die ein-
zige Folge unterdru? ckter Liebesleidenschaft. Auch
die Grausamkeit in allen Spielarten und Graden hat
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? 59
den gleichen Ursprung. Die Grausamkeit ist dem
Verbrechen nah verwandt; ihre Lebensfeindlichkeit
erhellt auf den ersten Blick. Manchmal erscheint
die Grausamkeit u? berhaupt nur als Vorspiel zum
Verbrechen; manchmal aber auch als ein feiner Er-
satz dafu? r. Der Grausame zersto? rt dann nicht, er
droht nur mit der Zersto? rung, er qua? lt; er tut gerade
so wenig, um kein Verbrecher zu sein und gerade
so viel, um das Gefu? hl des Verbrechens zu ge-
niessen. Der Grausame, das ist der idealistische Ver-
brecher; er geho? rt zu jenem Menschentypus, der
alles erst mittelbar, durch die Phantasie, erlebt.
Die Grausamkeit ist wie das Verbrechen eine
allgemeine Willensrichtung. Qua? lerei und Selbst-
qua? lerei findet man daher immer beisammen; es ist
schwer zu entscheiden, worum es dem Grausamen
eigentlich zu tun ist: um die Qual des anderen oder
um die eigene Qual beim Anblick der Qual des
anderen.
Die Grausamkeit kann, wie das Verbrechen, alles
Geformte, Organisches und Anorganisches, zum
Gegenstande haben. Die Tierqua? lerei bedarf kaum
einer Erwa? hnung. Es gibt aber auch eine Lieb-
losigkeit gegen Sachen, u? ber deren wahren Charakter
man alsbald unterrichtet ist, wenn man den Lebens-
schicksalen der Menschen nachforscht. Lieblosigkeit
ist immer ein Zeichen gesto? rten Liebeslebens; sie
ist nur beim echten Verbrecher eine Charakter-
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? 60
eigenschaft, sonst eine Folge unfreiwilliger Ent-
behrung.
Die Grausamkeit ist ungemein vielgestaltig. Ihre
Mittel ko? nnen physischer und psychischer Natur sein.
Stechen und Sticheln ist im Grunde ein und dasselbe.
Es gibt ganz unauffa? llige Formen der Qua? lerei, dazu
geho? ren die Vorwu? rfe und Selbstvorwu? rfe. Auch
wenn Gru? nde fu? r sie vorhanden sind, so sind diese
Gru? nde ha? ufig doch nur ein willkommener Vorwand
fu? r denjenigen, welcher infolge einer Triebsto? rung
andere oder sich selber qua? len will. Eine harmlose,
unschuldige Form der Grausamkeit ist die Neckerei.
Das Sprichwort sagt: Was sich liebt, das neckt sich.
Eigentlich sollte es aber heissen: Was sich nicht
genug lieben kann, das neckt sich. Satte Liebe ver-
langt nicht nach Neckereien. Auch diese wohlgefa? llige
A? usserung der Grausamkeit ist schon eine Folge der
Triebverkehrung.
Es wu? rde zu weit fu? hren, wollte ich hier alle
die Charaktereigenschaften auffu? hren, welche auf die
angegebene Art entstehen. Nur die Bissigkeit sei
noch erwa? hnt. Bissige Menschen fu? hren immer ein
ungeordnetes Triebleben. Ein bissiger Kritiker ist
ein unglu? cklicher Mensch; unglu? cklich heisst aber
immer nur: in der Liebe unglu? cklich.
Ich habe diese Betrachtungen u? ber das Wesen
der Grausamkeit deshalb eingefu? gt, weil Weininger
in seiner letzten Lebenszeit der Selbstqua? lerei sehr
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ergeben war. Es fehlte eben keine einzige von den
Folgen geknechteter Leidenschaft. Nicht der winzigste
Schaden in der menschlichen Natur blieb ihm ver-
borgen; aber es war ihm an der blossen Erkenntnis
nicht genug, er nutzte sie mit grimmigem Selbsthass
aus, um sich das Leben zu verleiden. Auch dass er
sich das martervolle Los einer Entsagung, die er
nicht vertrug, mit so brutaler Strenge auferlegte,
kam nicht von seiner Auffassung der ? bo? sen" Sinn-
lichkeit, sondern von der Vergewaltigung der Sinn-
lichkeit.
Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang der
Askese zu gedenken; doch will ich diese ehrwu? rdige
Erscheinung an anderer Stelle einer Betrachtung
unterziehen. Zweifellos ist der Asket ein Selbst-
qua? ler; das Wichtigste an ihm ist aber nicht dies,
sondern die vo? llig freiwillige und vo? llig bewusste
Unterdru? ckung des Geschlechtstriebes. --
Es ist eine der ersten Aufgaben der Wissen-
schaft, dasjenige zusammenzufassen, was dem Wesen
nach zusammengeho? rt, wenn es auch der Erscheinung
nach verschieden ist. Unter den Begriff des Ver-
brechens, wie er vorhin entwickelt wurde, fallen
auch die folgenden durchaus nicht harmlosen Be-
ta? tigungen: Das Verneinen, das Kritisieren, das
No? rgeln, das Absprechen, das Schimpfen, das ? Um-
werten* und anderes. All das kommt von angeborener
oder erworbener Geha? ssigkeit, Lieblosigkeit. So
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mancher, der im o? ffentlichen Leben den strengen
Richter spielt, ist nur ein unglu? cklicher Privatmann.
Es gibt eine Menge Arten, negative Ta? tigkeit ge-
schickt zu drapieren, so dass sie wohl gar als er-
spriesslich und hoch achtbar erscheint. Einwandfrei
sind nur jene Zersto? rer, die auch aufbauen ko? nnen.
So mancher Stu? rmer verra? t seine Art erst dadurch,
dass er sich zum Aufbauen ungewillt und unfa? hig
erweist.
Auch vom Verneiner hatte Weininger in der
letzten Zeit, im Gegensatz zu fru? her, sehr viel.
Nichts fand mehr Anerkennung, als was ihn in seinem
U? bel besta? rkte. Er war sich dieser neuen Eigenschaft
wohl bewusst und widmete ihr manche launige Be-
merkung. Einmal a? usserte er auch den scherzhaften
Plan, ein ? Juxopus" zu schreiben u? ber die Ent-
stehung der Sprache aus dem Schimpfen. --
Ich habe im Vorhergehenden dargelegt, wie
Weininger in den Zustand des Hasses hinein geriet.
Damit wa? re sein Los noch nicht entschieden gewesen;
leider gab es auch Gru? nde, derentwegen er aus dem
verha? ngnisvollen Zustand nicht mehr herauskam
und einer davon sei gleich im Anschluss an die
Betrachtungen u? ber das Wesen des Verbrechens
mitgeteilt; man kann ihn bezeichnen als das Ver-
gnu? gen am Diabolischen. Das Diabolische ist das
Verbrecherische im weitesten Sinn: alles negative
Tun. Es ist nun merkwu? rdig, was fu? r einen grossen
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Reiz das Diabolische in ju? ngeren Jahren ausu? bt.
Der Jugend imponieren die grossen Zersto? rer mehr
als die grossen Erbauer; ein Napoleon mehr als ein
Bismarck. Als Ursache ko? nnte man annehmen, dass
die Jugend zu positiver Ta? tigkeit selbst noch nicht
reif ist und infolgedessen kein Versta? ndnis dafu? r
hat. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass die Vor-
liebe fu? rs Diabolische denselben Grund hat wie die
verbrecherische Beta? tigung selbst: das ungeordnete
Triebleben, welches die Jugend notgedrungen fu? hrt.
So manches Jugendwerk gibt Zeugnis von dieser
Vorliebe; man denke nur an Schillers Ra? uber, an
Wagners Jugenddrama mit den ungeza? hlten Toten.
Die Sto? rung des Trieblebens zeigt sich zumindest
in dem Zauber, den das Bo? se auf jemand ausu? bt.
U? ber viele Erscheinungen der Literatur la? sst sich
von hier aus eine ganz neue Einsicht gewinnen.
Mit der Vorliebe fu? rs Diabolische ha? ngt auch
eine besondere Art des Unsterblichkeitsbedu? rfnisses
zusammen. Die Guten und die Bo? sen haben eine
verschiedene Art der Fortdauer. Vom guten Menschen
bleibt das Gute u? brig und durch dieses Gute lebt
er weiter; vom bo?
sen Menschen hingegen bleibt
nichts u? brig -- er strebt ja das Nichts an --, er
lebt nur durch seinen Namen weiter.
Die Jugend hat wenig Sinn fu? r die namenlose
Unsterblichkeit des Guten, sehr viel fu? r die hero-
stratische Unsterblichkeit. Brennender Ehrgeiz, wie
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er u? brigens nur mit negativen Gelu? sten verbunden
ist, wird besser durch eine Untat als durch eine
Guttat befriedigt. Dem Ehrgeizigen ist es immer
nur um die Unsterblichkeit des Namens zu tun;
nicht um tiefe, sondern um oberfla? chliche Wirkung,
nicht um Auferbauung sondern um Aufreizung. Der
Ehrgeizige geht nicht darauf aus, das Innere der
Menschen zu gewinnen, sondern ihr A? usseres, die
Sinne, zu bescha? ftigen, zu beunruhigen. Der Ehr-
geizige will mit einem Wort Sensation erregen und
dazu eignet sich am besten alles Negative. Das
Negative ist ja fu? r die Sinne bestimmt, in denen es
erstirbt. Die a? rgsten Gra? uel der ^Zersto? rung ver-
schwinden erstaunlich schnell aus dem Geda? chtnisse
der Zeitgenossen. Das sinnliche Geda? chtnis ist kurz;
und das geistige Geda? chtnis ha? lt nur Gutes, Ganzes
fest. --
Was nun Weininger anlangt, ist kein Zweifel,
dass er sich in der Pose des Hassers, des Vera? chters
gefiel. Es bereitete ihm Wonne, sich den Aufruhr
auszumalen, den sein Werk hervorrufen wu? rde. An
der guten Wirkung des Guten war ihm weniger
gelegen als an der schlimmen Wirkung des Schlimmen.
Er wollte keine freundliche Sonne, sondern greller
Feuerschein sein. Er wollte nicht, wie's dem positiv
Schaffenden geziemt, ein frommer Eindringling in
die Seelen anderer sein, sondern ein Aufru? hrer. Er
wollte nicht beru? hmt, sondern beru? chtigt werden;
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und dies ist ihm auch ziemlich gelungen. Ein Has-
sender kann nur beru? chtigt werden.
Noch liesse sich, um Weiningers Verliebtheit
in seinen Hass zu erkla? ren, anfu? hren, dass alles
Diabolische etwas eigentu? mlich Geheimnisvolles hat.
Durch Hass wird man interessanter als durch Liebe.
Man beobachtet bei jungen Leuten ha? ufig, dass sie
sich schlecht machen oder trotzig, gewaltta? tig, lieblos
geberden, um interessanter zu erscheinen. Weininger
wollte sich durch seinen Hass denen bemerkbar
machen, die ihn nicht bemerkten. Er konnte sie
nicht entbehren, die er so bitter schma? hte; er musste
sich irgend eine Geltung bei ihnen erzwingen, darum
spielte er den Vera? chter.
Ich sage, er spielte ihn. Die sogenannten inter-
essanten Menschen spielen alle; sie sind nie ganz
ernst zu nehmen. Auch Weininger spielte den Ver-
a? chter, insofern er seine Abneigung gegen das
weibliche Geschlecht masslos u? bertrieb. Fu? r den
Zweck des Spielens genu? gt es vollsta? ndig, bloss zu
spielen. Allein -- und das ist das Unselige in
Weiningers Geschick -- er war eines Tages mora-
lisch gezwungen, das zu sein, was er eigentlich nur
gespielt hatte. Er war gar nicht der grimmige Hasser,
fu? r den er sich ausgab. Andere nehmen die bleiche,
du? stere Maske wieder ab, wenn es Zeit ist -- er
war geno? tigt, sie weiterzutragen, war geno? tigt, ihr
mit seinem Wesen zu entsprechen. Er hatte geredet
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 5
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und gehandelt wie auf der Bu? hne, mit den kra? ftigsten
Worten und den gro? ssten Geberden; aber, durch ein
einzigartiges Missgeschick verwandelte sich auf ein-
mal die Bu? hne zum Leben. Er fu? hlte die Verpflich'
tung seine Rolle zu leben. Dies vermag aber kein
Mensch. Rollen kann man nur spielen; zu ihren
Wesen geho? rt es, dass sie u? ber das Mass des im
Leben Mo? glichen hinausgehen. --
Nachdem ich nun dargelegt habe, in welchem
Zustande Weininger den dritten Teil seines Werkes
schrieb, entsteht die Frage, inwieweit das Werk
durch diesen Zustand beeinflusst wurde. Es geschah
dies in zweifacher Hinsicht: Einmal wurde Weiningers
Denken infolge des Affektes, der ihn beherrschte,
einseitig, das heisst unwissenschaftlich; sodann be-
nutzte Weininger sein Denken, um sich von dem
Affekt loszusprechen, mit anderen Worten, das
Denken erhielt affektiven Charakter; es gewann da-
durch hohen Wert fu? r Weininger selbst, es verlor
aber, eben als Denken, seinen Allgemeinwert.
Oft und oft wird die Frage aufgeworfen, ob
Weininger mit seiner Ansicht u? ber das Weib Recht
habe. Diese Frage ist in folgender Weise zu beant-
worten. Weininger hat an W eine Menge sehr scharfer
Beobachtungen gemacht, u? ber deren Richtigkeit gar
nicht gestritten werden kann. Eine blosse Beob-
achtung kann u? berhaupt nicht falsch sein. Eine
blosse Beobachtung, ob sie nun erfreulich oder un-
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erfreulich ist, kann auch nie den Gegenstand erregter
Debatten bilden. Reine Tatsachen ko? nnen nicht an-
gegriffen und brauchen nicht verfochten zu werden.
Allein mit der blossen Beobachtung war es bei Wei-
ninger nicht abgetan. Vor allem ist zu bemerken,
dass er unter den vielen mo? glichen Beobachtungen
eine Auswahl nach seinem Geschmack traf. Das mit
Beziehung auf Weininger so viel zitierte Wort: Der
Hass sieht scharf, ist irrefu? hrend. Nicht nur der Hass,
auch die Liebe sieht scharf; aber der Hass sieht etwas
anderes als die Liebe. Der Hass sieht von na? her, er ist
ein peinlicher Beobachter; scharf besehen macht nichts
einen guten Eindruck. Die Liebe u? berschaut ihren
Gegenstand mit wohlwollendem Ku? nstlerauge; das
Ganze, das sich ihr offenbart, ist nicht minder wahr
als die Teile, die der Hass ? entdeckt".
Ferner: Wer von einem Gefu? hle, es sei wie
immer geartet, beherrscht ist, wird nie die ganze
Wahrheit finden. Jedes lebhafte Gefu? hl macht sich
die u? brigen seelischen Kra? fte dienstbar; Beobachtung
und Denken haben nichts weiter zu tun als es zu
na? hren. Es ist notwendig, zwischen Gefu? hl und
Beobachtung die richtige Reihenfolge herzustellen.
Weininger ha? tte gern glauben gemacht, dass er W
wegen seiner Eigenschaften verachte. Inzwischen
war die Abneigung gegen W das Fru? here, die
schlechten Eigenschaften kamen erst nach. Eine
solche Richtigstellung kann man in unza? hligen Fa? llen
5*
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vornehmen: Alle U? belgelaunten schieben ihre Laune
auf Gru? nde, die ohne ihre Laune fu? r sie gar nicht
da wa? ren. Die Laune wird nicht durch Gru? nde be-
wirkt, sondern sie na? hrt sich damit. Es besteht
zwischen seelischen Zusta? nden und allem, was sie
hervorrufen ko? nnte, eine unvermeidliche Anziehung.
Weininger findet an W schlechte Eigenschaften,
weil man auf Grund schlechter Eigenschaften wirk-
lich jemandem abgeneigt sein kann. Die ganze
Wahrheit findet nur ein vo? llig unabha? ngiger Geist.
Gefu? hle befa? higen zu ausgesprochenen Ansichten,
aber nicht zu Einsicht. Indes kann auch ein von
allen Launen des Gemu? tes Heimgesuchter zur Wahr-
heit gelangen, wenn er die wechselnden Ansichten
zusammenfasst: Das Lob von heute und den Tadel
von morgen. Die Einsicht entsteht aus vielen An-
sichten wie das weisse Licht aus den Farben des
Spektrums.
Weininger hat von W nur eine einzige Ansicht
gehabt und diese gab er fu? r die ho? chste Einsicht
aus. Man kann dies auch so ausdru? cken: Er erhob
vereinzelte Beobachtungen zum Gesetz. Warum er
dies tat, ist schon bei anderer Gelegenheit erwa? hnt
worden: Er gab seinen Beobachtungen dadurch die
gewu? nschte beleidigende Scha? rfe. Denn sonst ge-
ho? rte Weininger keineswegs zu den vorschnellen
Verallgemeinern; er hatte es bei seinen Fa? higkeiten
nicht notwendig, in ungeduldigem Ehrgeiz Natur-
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gesetze zu oktroyieren. Er hatte als Genie auch ein
Gefu?
fiel ihm eine Menge u? ber den Verbrecher ein, nur
nichts, was ihn u? ber die Herkunft seines vera? nderten
Wesens aufgekla? rt und eine Wiederherstellung er-
mo? glicht ha? tte. Seine Gedanken befestigten ihn nur
in seinen Zusta? nden; und gerade an den Gedanken,
die ihm diesen schlechten Dienst erwiesen, hatte
er ein so unseliges Wohlgefallen. --
Verbrecherische Neigungen sind nicht die ein-
zige Folge unterdru? ckter Liebesleidenschaft. Auch
die Grausamkeit in allen Spielarten und Graden hat
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den gleichen Ursprung. Die Grausamkeit ist dem
Verbrechen nah verwandt; ihre Lebensfeindlichkeit
erhellt auf den ersten Blick. Manchmal erscheint
die Grausamkeit u? berhaupt nur als Vorspiel zum
Verbrechen; manchmal aber auch als ein feiner Er-
satz dafu? r. Der Grausame zersto? rt dann nicht, er
droht nur mit der Zersto? rung, er qua? lt; er tut gerade
so wenig, um kein Verbrecher zu sein und gerade
so viel, um das Gefu? hl des Verbrechens zu ge-
niessen. Der Grausame, das ist der idealistische Ver-
brecher; er geho? rt zu jenem Menschentypus, der
alles erst mittelbar, durch die Phantasie, erlebt.
Die Grausamkeit ist wie das Verbrechen eine
allgemeine Willensrichtung. Qua? lerei und Selbst-
qua? lerei findet man daher immer beisammen; es ist
schwer zu entscheiden, worum es dem Grausamen
eigentlich zu tun ist: um die Qual des anderen oder
um die eigene Qual beim Anblick der Qual des
anderen.
Die Grausamkeit kann, wie das Verbrechen, alles
Geformte, Organisches und Anorganisches, zum
Gegenstande haben. Die Tierqua? lerei bedarf kaum
einer Erwa? hnung. Es gibt aber auch eine Lieb-
losigkeit gegen Sachen, u? ber deren wahren Charakter
man alsbald unterrichtet ist, wenn man den Lebens-
schicksalen der Menschen nachforscht. Lieblosigkeit
ist immer ein Zeichen gesto? rten Liebeslebens; sie
ist nur beim echten Verbrecher eine Charakter-
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eigenschaft, sonst eine Folge unfreiwilliger Ent-
behrung.
Die Grausamkeit ist ungemein vielgestaltig. Ihre
Mittel ko? nnen physischer und psychischer Natur sein.
Stechen und Sticheln ist im Grunde ein und dasselbe.
Es gibt ganz unauffa? llige Formen der Qua? lerei, dazu
geho? ren die Vorwu? rfe und Selbstvorwu? rfe. Auch
wenn Gru? nde fu? r sie vorhanden sind, so sind diese
Gru? nde ha? ufig doch nur ein willkommener Vorwand
fu? r denjenigen, welcher infolge einer Triebsto? rung
andere oder sich selber qua? len will. Eine harmlose,
unschuldige Form der Grausamkeit ist die Neckerei.
Das Sprichwort sagt: Was sich liebt, das neckt sich.
Eigentlich sollte es aber heissen: Was sich nicht
genug lieben kann, das neckt sich. Satte Liebe ver-
langt nicht nach Neckereien. Auch diese wohlgefa? llige
A? usserung der Grausamkeit ist schon eine Folge der
Triebverkehrung.
Es wu? rde zu weit fu? hren, wollte ich hier alle
die Charaktereigenschaften auffu? hren, welche auf die
angegebene Art entstehen. Nur die Bissigkeit sei
noch erwa? hnt. Bissige Menschen fu? hren immer ein
ungeordnetes Triebleben. Ein bissiger Kritiker ist
ein unglu? cklicher Mensch; unglu? cklich heisst aber
immer nur: in der Liebe unglu? cklich.
Ich habe diese Betrachtungen u? ber das Wesen
der Grausamkeit deshalb eingefu? gt, weil Weininger
in seiner letzten Lebenszeit der Selbstqua? lerei sehr
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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ergeben war. Es fehlte eben keine einzige von den
Folgen geknechteter Leidenschaft. Nicht der winzigste
Schaden in der menschlichen Natur blieb ihm ver-
borgen; aber es war ihm an der blossen Erkenntnis
nicht genug, er nutzte sie mit grimmigem Selbsthass
aus, um sich das Leben zu verleiden. Auch dass er
sich das martervolle Los einer Entsagung, die er
nicht vertrug, mit so brutaler Strenge auferlegte,
kam nicht von seiner Auffassung der ? bo? sen" Sinn-
lichkeit, sondern von der Vergewaltigung der Sinn-
lichkeit.
Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang der
Askese zu gedenken; doch will ich diese ehrwu? rdige
Erscheinung an anderer Stelle einer Betrachtung
unterziehen. Zweifellos ist der Asket ein Selbst-
qua? ler; das Wichtigste an ihm ist aber nicht dies,
sondern die vo? llig freiwillige und vo? llig bewusste
Unterdru? ckung des Geschlechtstriebes. --
Es ist eine der ersten Aufgaben der Wissen-
schaft, dasjenige zusammenzufassen, was dem Wesen
nach zusammengeho? rt, wenn es auch der Erscheinung
nach verschieden ist. Unter den Begriff des Ver-
brechens, wie er vorhin entwickelt wurde, fallen
auch die folgenden durchaus nicht harmlosen Be-
ta? tigungen: Das Verneinen, das Kritisieren, das
No? rgeln, das Absprechen, das Schimpfen, das ? Um-
werten* und anderes. All das kommt von angeborener
oder erworbener Geha? ssigkeit, Lieblosigkeit. So
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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mancher, der im o? ffentlichen Leben den strengen
Richter spielt, ist nur ein unglu? cklicher Privatmann.
Es gibt eine Menge Arten, negative Ta? tigkeit ge-
schickt zu drapieren, so dass sie wohl gar als er-
spriesslich und hoch achtbar erscheint. Einwandfrei
sind nur jene Zersto? rer, die auch aufbauen ko? nnen.
So mancher Stu? rmer verra? t seine Art erst dadurch,
dass er sich zum Aufbauen ungewillt und unfa? hig
erweist.
Auch vom Verneiner hatte Weininger in der
letzten Zeit, im Gegensatz zu fru? her, sehr viel.
Nichts fand mehr Anerkennung, als was ihn in seinem
U? bel besta? rkte. Er war sich dieser neuen Eigenschaft
wohl bewusst und widmete ihr manche launige Be-
merkung. Einmal a? usserte er auch den scherzhaften
Plan, ein ? Juxopus" zu schreiben u? ber die Ent-
stehung der Sprache aus dem Schimpfen. --
Ich habe im Vorhergehenden dargelegt, wie
Weininger in den Zustand des Hasses hinein geriet.
Damit wa? re sein Los noch nicht entschieden gewesen;
leider gab es auch Gru? nde, derentwegen er aus dem
verha? ngnisvollen Zustand nicht mehr herauskam
und einer davon sei gleich im Anschluss an die
Betrachtungen u? ber das Wesen des Verbrechens
mitgeteilt; man kann ihn bezeichnen als das Ver-
gnu? gen am Diabolischen. Das Diabolische ist das
Verbrecherische im weitesten Sinn: alles negative
Tun. Es ist nun merkwu? rdig, was fu? r einen grossen
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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Reiz das Diabolische in ju? ngeren Jahren ausu? bt.
Der Jugend imponieren die grossen Zersto? rer mehr
als die grossen Erbauer; ein Napoleon mehr als ein
Bismarck. Als Ursache ko? nnte man annehmen, dass
die Jugend zu positiver Ta? tigkeit selbst noch nicht
reif ist und infolgedessen kein Versta? ndnis dafu? r
hat. Viel wahrscheinlicher ist es aber, dass die Vor-
liebe fu? rs Diabolische denselben Grund hat wie die
verbrecherische Beta? tigung selbst: das ungeordnete
Triebleben, welches die Jugend notgedrungen fu? hrt.
So manches Jugendwerk gibt Zeugnis von dieser
Vorliebe; man denke nur an Schillers Ra? uber, an
Wagners Jugenddrama mit den ungeza? hlten Toten.
Die Sto? rung des Trieblebens zeigt sich zumindest
in dem Zauber, den das Bo? se auf jemand ausu? bt.
U? ber viele Erscheinungen der Literatur la? sst sich
von hier aus eine ganz neue Einsicht gewinnen.
Mit der Vorliebe fu? rs Diabolische ha? ngt auch
eine besondere Art des Unsterblichkeitsbedu? rfnisses
zusammen. Die Guten und die Bo? sen haben eine
verschiedene Art der Fortdauer. Vom guten Menschen
bleibt das Gute u? brig und durch dieses Gute lebt
er weiter; vom bo?
sen Menschen hingegen bleibt
nichts u? brig -- er strebt ja das Nichts an --, er
lebt nur durch seinen Namen weiter.
Die Jugend hat wenig Sinn fu? r die namenlose
Unsterblichkeit des Guten, sehr viel fu? r die hero-
stratische Unsterblichkeit. Brennender Ehrgeiz, wie
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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er u? brigens nur mit negativen Gelu? sten verbunden
ist, wird besser durch eine Untat als durch eine
Guttat befriedigt. Dem Ehrgeizigen ist es immer
nur um die Unsterblichkeit des Namens zu tun;
nicht um tiefe, sondern um oberfla? chliche Wirkung,
nicht um Auferbauung sondern um Aufreizung. Der
Ehrgeizige geht nicht darauf aus, das Innere der
Menschen zu gewinnen, sondern ihr A? usseres, die
Sinne, zu bescha? ftigen, zu beunruhigen. Der Ehr-
geizige will mit einem Wort Sensation erregen und
dazu eignet sich am besten alles Negative. Das
Negative ist ja fu? r die Sinne bestimmt, in denen es
erstirbt. Die a? rgsten Gra? uel der ^Zersto? rung ver-
schwinden erstaunlich schnell aus dem Geda? chtnisse
der Zeitgenossen. Das sinnliche Geda? chtnis ist kurz;
und das geistige Geda? chtnis ha? lt nur Gutes, Ganzes
fest. --
Was nun Weininger anlangt, ist kein Zweifel,
dass er sich in der Pose des Hassers, des Vera? chters
gefiel. Es bereitete ihm Wonne, sich den Aufruhr
auszumalen, den sein Werk hervorrufen wu? rde. An
der guten Wirkung des Guten war ihm weniger
gelegen als an der schlimmen Wirkung des Schlimmen.
Er wollte keine freundliche Sonne, sondern greller
Feuerschein sein. Er wollte nicht, wie's dem positiv
Schaffenden geziemt, ein frommer Eindringling in
die Seelen anderer sein, sondern ein Aufru? hrer. Er
wollte nicht beru? hmt, sondern beru? chtigt werden;
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und dies ist ihm auch ziemlich gelungen. Ein Has-
sender kann nur beru? chtigt werden.
Noch liesse sich, um Weiningers Verliebtheit
in seinen Hass zu erkla? ren, anfu? hren, dass alles
Diabolische etwas eigentu? mlich Geheimnisvolles hat.
Durch Hass wird man interessanter als durch Liebe.
Man beobachtet bei jungen Leuten ha? ufig, dass sie
sich schlecht machen oder trotzig, gewaltta? tig, lieblos
geberden, um interessanter zu erscheinen. Weininger
wollte sich durch seinen Hass denen bemerkbar
machen, die ihn nicht bemerkten. Er konnte sie
nicht entbehren, die er so bitter schma? hte; er musste
sich irgend eine Geltung bei ihnen erzwingen, darum
spielte er den Vera? chter.
Ich sage, er spielte ihn. Die sogenannten inter-
essanten Menschen spielen alle; sie sind nie ganz
ernst zu nehmen. Auch Weininger spielte den Ver-
a? chter, insofern er seine Abneigung gegen das
weibliche Geschlecht masslos u? bertrieb. Fu? r den
Zweck des Spielens genu? gt es vollsta? ndig, bloss zu
spielen. Allein -- und das ist das Unselige in
Weiningers Geschick -- er war eines Tages mora-
lisch gezwungen, das zu sein, was er eigentlich nur
gespielt hatte. Er war gar nicht der grimmige Hasser,
fu? r den er sich ausgab. Andere nehmen die bleiche,
du? stere Maske wieder ab, wenn es Zeit ist -- er
war geno? tigt, sie weiterzutragen, war geno? tigt, ihr
mit seinem Wesen zu entsprechen. Er hatte geredet
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 5
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und gehandelt wie auf der Bu? hne, mit den kra? ftigsten
Worten und den gro? ssten Geberden; aber, durch ein
einzigartiges Missgeschick verwandelte sich auf ein-
mal die Bu? hne zum Leben. Er fu? hlte die Verpflich'
tung seine Rolle zu leben. Dies vermag aber kein
Mensch. Rollen kann man nur spielen; zu ihren
Wesen geho? rt es, dass sie u? ber das Mass des im
Leben Mo? glichen hinausgehen. --
Nachdem ich nun dargelegt habe, in welchem
Zustande Weininger den dritten Teil seines Werkes
schrieb, entsteht die Frage, inwieweit das Werk
durch diesen Zustand beeinflusst wurde. Es geschah
dies in zweifacher Hinsicht: Einmal wurde Weiningers
Denken infolge des Affektes, der ihn beherrschte,
einseitig, das heisst unwissenschaftlich; sodann be-
nutzte Weininger sein Denken, um sich von dem
Affekt loszusprechen, mit anderen Worten, das
Denken erhielt affektiven Charakter; es gewann da-
durch hohen Wert fu? r Weininger selbst, es verlor
aber, eben als Denken, seinen Allgemeinwert.
Oft und oft wird die Frage aufgeworfen, ob
Weininger mit seiner Ansicht u? ber das Weib Recht
habe. Diese Frage ist in folgender Weise zu beant-
worten. Weininger hat an W eine Menge sehr scharfer
Beobachtungen gemacht, u? ber deren Richtigkeit gar
nicht gestritten werden kann. Eine blosse Beob-
achtung kann u? berhaupt nicht falsch sein. Eine
blosse Beobachtung, ob sie nun erfreulich oder un-
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erfreulich ist, kann auch nie den Gegenstand erregter
Debatten bilden. Reine Tatsachen ko? nnen nicht an-
gegriffen und brauchen nicht verfochten zu werden.
Allein mit der blossen Beobachtung war es bei Wei-
ninger nicht abgetan. Vor allem ist zu bemerken,
dass er unter den vielen mo? glichen Beobachtungen
eine Auswahl nach seinem Geschmack traf. Das mit
Beziehung auf Weininger so viel zitierte Wort: Der
Hass sieht scharf, ist irrefu? hrend. Nicht nur der Hass,
auch die Liebe sieht scharf; aber der Hass sieht etwas
anderes als die Liebe. Der Hass sieht von na? her, er ist
ein peinlicher Beobachter; scharf besehen macht nichts
einen guten Eindruck. Die Liebe u? berschaut ihren
Gegenstand mit wohlwollendem Ku? nstlerauge; das
Ganze, das sich ihr offenbart, ist nicht minder wahr
als die Teile, die der Hass ? entdeckt".
Ferner: Wer von einem Gefu? hle, es sei wie
immer geartet, beherrscht ist, wird nie die ganze
Wahrheit finden. Jedes lebhafte Gefu? hl macht sich
die u? brigen seelischen Kra? fte dienstbar; Beobachtung
und Denken haben nichts weiter zu tun als es zu
na? hren. Es ist notwendig, zwischen Gefu? hl und
Beobachtung die richtige Reihenfolge herzustellen.
Weininger ha? tte gern glauben gemacht, dass er W
wegen seiner Eigenschaften verachte. Inzwischen
war die Abneigung gegen W das Fru? here, die
schlechten Eigenschaften kamen erst nach. Eine
solche Richtigstellung kann man in unza? hligen Fa? llen
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vornehmen: Alle U? belgelaunten schieben ihre Laune
auf Gru? nde, die ohne ihre Laune fu? r sie gar nicht
da wa? ren. Die Laune wird nicht durch Gru? nde be-
wirkt, sondern sie na? hrt sich damit. Es besteht
zwischen seelischen Zusta? nden und allem, was sie
hervorrufen ko? nnte, eine unvermeidliche Anziehung.
Weininger findet an W schlechte Eigenschaften,
weil man auf Grund schlechter Eigenschaften wirk-
lich jemandem abgeneigt sein kann. Die ganze
Wahrheit findet nur ein vo? llig unabha? ngiger Geist.
Gefu? hle befa? higen zu ausgesprochenen Ansichten,
aber nicht zu Einsicht. Indes kann auch ein von
allen Launen des Gemu? tes Heimgesuchter zur Wahr-
heit gelangen, wenn er die wechselnden Ansichten
zusammenfasst: Das Lob von heute und den Tadel
von morgen. Die Einsicht entsteht aus vielen An-
sichten wie das weisse Licht aus den Farben des
Spektrums.
Weininger hat von W nur eine einzige Ansicht
gehabt und diese gab er fu? r die ho? chste Einsicht
aus. Man kann dies auch so ausdru? cken: Er erhob
vereinzelte Beobachtungen zum Gesetz. Warum er
dies tat, ist schon bei anderer Gelegenheit erwa? hnt
worden: Er gab seinen Beobachtungen dadurch die
gewu? nschte beleidigende Scha? rfe. Denn sonst ge-
ho? rte Weininger keineswegs zu den vorschnellen
Verallgemeinern; er hatte es bei seinen Fa? higkeiten
nicht notwendig, in ungeduldigem Ehrgeiz Natur-
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gesetze zu oktroyieren. Er hatte als Genie auch ein
Gefu?
