Dazu konnte er sich nun nicht ent-
schliessen und den Hass vertrug er nicht -- das war
die verzweifelt schwierige Lage, in die ihn sein
Buch gebracht hatte.
schliessen und den Hass vertrug er nicht -- das war
die verzweifelt schwierige Lage, in die ihn sein
Buch gebracht hatte.
Weininger - 1923 - Tod
Eine
solche Richtigstellung kann man in unza? hligen Fa? llen
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vornehmen: Alle U? belgelaunten schieben ihre Laune
auf Gru? nde, die ohne ihre Laune fu? r sie gar nicht
da wa? ren. Die Laune wird nicht durch Gru? nde be-
wirkt, sondern sie na? hrt sich damit. Es besteht
zwischen seelischen Zusta? nden und allem, was sie
hervorrufen ko? nnte, eine unvermeidliche Anziehung.
Weininger findet an W schlechte Eigenschaften,
weil man auf Grund schlechter Eigenschaften wirk-
lich jemandem abgeneigt sein kann. Die ganze
Wahrheit findet nur ein vo? llig unabha? ngiger Geist.
Gefu? hle befa? higen zu ausgesprochenen Ansichten,
aber nicht zu Einsicht. Indes kann auch ein von
allen Launen des Gemu? tes Heimgesuchter zur Wahr-
heit gelangen, wenn er die wechselnden Ansichten
zusammenfasst: Das Lob von heute und den Tadel
von morgen. Die Einsicht entsteht aus vielen An-
sichten wie das weisse Licht aus den Farben des
Spektrums.
Weininger hat von W nur eine einzige Ansicht
gehabt und diese gab er fu? r die ho? chste Einsicht
aus. Man kann dies auch so ausdru? cken: Er erhob
vereinzelte Beobachtungen zum Gesetz. Warum er
dies tat, ist schon bei anderer Gelegenheit erwa? hnt
worden: Er gab seinen Beobachtungen dadurch die
gewu? nschte beleidigende Scha? rfe. Denn sonst ge-
ho? rte Weininger keineswegs zu den vorschnellen
Verallgemeinern; er hatte es bei seinen Fa? higkeiten
nicht notwendig, in ungeduldigem Ehrgeiz Natur-
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gesetze zu oktroyieren. Er hatte als Genie auch ein
Gefu? hl dafu? r, was sich bei umfassenderer Nach-
forschung wohl als allgemein erweisen wu? rde; nur
die Unbedeutenden, Ahnungslosen, mu? ssen sich
immer erst vergewissern, nur fu? r sie gibt es nichts
von vornherein Gewisses.
Aber noch einen grossen Dienst leistete sich
Weininger, indem er Beobachtungen zum Gesetz
erhob. In dem Augenblick, wo etwas allgemein
gilt, ist es, fu? r den geborenen Philosophen wenigstens,
auch ertra? glich. Die einen tro? sten sich und sagen:
? So sind ja nicht alle! ", die anderen, die ? Philo-
sophen", sagen: ? So sind sie alle! " und finden
gerade darin Trost. Das ist die Gesetzeswohltat
des denkenden Menschen. In den Reden Unglu? ck-
licher kommt ha? ufig die ? ganze Welt" vor; was
von der ganzen Welt gilt -- wie sollte sich dem
der Einzelne entziehen ko? nnen. Man erstickt die
drohende Revolte im Innern dadurch, dass man
sich zum Untertan einer allma? chtigen und unerbitt-
lichen Notwendigkeit macht. Notwendigkeit ist das
beste Beruhigungsmittel. Wenn Weininger nach
dem Sinn des Weibes im Universum forscht, so
will er nur seine unerfreulichen Beobachtungen als
notwendige A? usserungen eines allumfassenden Ge-
setzes darstellen.
Endlich ist noch ein Kunstgriff zu erwa? hnen,
den Weininger mit seinen Beobachtungen ha? ufig
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vornimmt: Er deutet sie missgu? nstig. So z. B. die
Kuppelei, in der er die allgemeinste Eigenschaft
von W erblickt. Zuvo? rderst ist es nicht wahr,
dass W ausnahmlos kuppelt; aber wenn es auch
wahr wa? re: Ist die Kuppelei, als Interesse an der
Fortpflanzung aufgefasst, wirklich etwas so Verab-
scheuungswu? rdiges? Ganz im Gegenteil. Das In-
teresse an der Fortpflanzung zeugt vielmehr von
dem Bedu? rfnis nach Ho? herentwicklung, welche eben
fu? r die meisten Menschen nur in einem spa? teren
Leben mo? glich ist. Der Geschlechtstrieb ist ein
dumpfer Vervollkommnungstrieb; und er ist dies ge-
rade bei den unbedeutenden Menschen, die Weininger
deswegen anklagt. Blosse Sinnlichkeit, verdammens-
werte Sinnlichkeit liegt erst im Geschlechtstrieb jener
Menschen, denen an der Fortpflanzung nichts mehr
liegt, weil sie schon Letzte ihres Geschlechtes, Vol-
lender sind. Der Geschlechtstrieb der hervorragenden
Menschen hat etwas Sinnloses und daher Su? nd-
haftes; der des gewo? hnlichen Menschen hingegen,
des Zwischengliedes der Generationen, ist seinem
Zwecke gema? ss etwas Heiliges. Es ist eine Unter-
stellung, wenn behauptet wird, dass die um Nach-
kommenschaft Besorgten das Menschengeschlecht
vor dem Aussterben bewahren wollen. Man horche
nur genauer auf die A? usserungen der Erzeuger hin.
Ihre Sehnsucht ist auf eine ho? here Daseinsstufe ge-
richtet, die sie wenigstens in ihren Kindern erreichen
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wollen. Die Menschen wollen nicht ewig als Menschen
weiterleben; sie wollen aussterben, aber in Geistes-
kindern. --
Mit seinen falschen Deutungen richtiger Tat-
sachen hat Weininger das gro? sste Unheil unter seinen
Lesern angerichtet. Darin liegt das Verfu? hrerische
seines Buches und deshalb fu? hlen sich die meisten
so hilflos dagegen: Die Tatsachen sind nicht zu be-
streiten und die Deutungen schwer zu widerlegen.
Nicht mit seinen Beobachtungen hat also
Weininger Unrecht, sondern mit deren Wertung.
Diese Misswertung hatte nun aber einen besonderen
Grund: Er wollte sich von seinem Hass durch Be-
leidigung befreien. Vieles in seinem Buche ist ganz
offenbar darauf angelegt, A? rgernis bei dem andern
Geschlecht zu erregen; so wollte er von dem eigenen
A? rger genesen.
Alle bedeutenden Bu? cher, die guten und die
bo? sen, sind gewidmet. Beatrice, Mathilde brauchen
nicht genannt zu sein; ja nicht einmal gelebt zu
haben. Jedes Werk tra? gt zumindest die anonyme
Widmung an eine ertra? umte Geliebte. Die guten
Werke sind der glu? cklich Geliebten, die bo? sen der
unglu? cklich Geliebten, der Gehassten, gewidmet. Die
guten Werke sollen die Geliebte erfreuen, die bo? sen
sollen ihr irgend ein Unlustgefu? hl, A? rger, Widerwillen,
Abscheu, Grauen, verursachen.
Eine solche Widmung scheint auch Weiningers
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Werk zu tragen. Es ist ihm zwar sicher keine Un-
bill widerfahren, die im richtigen Verha? ltnis zu seiner
Rache stu? nde. Allein, wie wenig Erfahrung braucht
ein scho? pferischer Mensch, um sofort das A? usserste
zu erleben. In scho? pferischen Menschen wird ja alles
nur ausgelo? st. Sie sind ganz Mo? glichkeit und brauchen
daher zum Leben am wenigsten Wirklichkeit. Viel-
leicht war es nur ein winziger peinlicher Eindruck,
fu? r den sich Weininger Genugtuung verschaffen
wollte; unzweifelhaft ist, dass er dies wollte. Und er
konnte es auch, wie niemand ausser ihm; kraft seiner
wissenschaftlichen Begabung konnte er seine An-
griffe gegen das ganze Geschlecht richten und ihnen
den denkbar gro? ssten Nachdruck verleihen. Und
wenn ich nur das angerichtete U? bel u? berschaue,
von dem ich weiss, die Beunruhigung und Kra? nkung
so manchen edlen Frauenherzens, muss ich sagen,
seine Absicht ist ihm vollkommen gelungen. Allein,
gerade das war sein Verha? ngnis. Er hatte sich mit
dem Buch, durch das er gesunden wollte, jede
Lebensmo? glichheit abgeschnitten.
Als Weininger ? Geschlecht und Charakter"
vollendet hatte, empfand er eine ungeheure Be-
friedigung; er hatte sich von seinem Groll gru? nd-
lich losgesprochen. Er triumphierte. Aber dieser
Triumph sollte ihn das Leben kosten. Derselbe
Umstand, der seinen Sieg anscheinend so voll-
sta? ndig machte, fu? hrte sein Verderben herbei: Die
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Wissenschaftlichkeit des Antifeminismus. Weininger
war gar kein Weiberfeind, seine wissenschaftlichen
Anschauungen u? ber das Weib zwangen ihn aber, einer
zu sein, wenn er nicht seine Wissenschaft preis-
geben wollte.
Dazu konnte er sich nun nicht ent-
schliessen und den Hass vertrug er nicht -- das war
die verzweifelt schwierige Lage, in die ihn sein
Buch gebracht hatte.
Es waren schon viele Weiberhasser vor Wei-
ninger da, aber keiner hatte, zu seinem Glu? ck, ver-
mocht, seine Meinung in eine wissenschaftliche
Form zu bringen. Wenn einer reuig zu den Ge-
schma? hten zuru? ckkehren wollte, so stand dem nichts
entgegen; nichts, als die A? usserung einer voru? ber-
gehenden Laune. Launen verpflichten nicht; Launen
darf man, Launen soll man wechseln.
Es ist das gro? sste Unheil, welches der ewige
Wechsel der Launen anrichten kann, wenn sich
jemand durch eine Laune zu weittragenden Hand-
lungen verleiten la? sst, die nur in dieser Laune und
sonst keinen Sinn haben. Die wichtigste Lebens-
bedingung fu? r einen Launenhaften ist eine nach-
giebige Umgebung: nachgiebige Menschen, nach-
giebige Verha? ltnisse. Wer in einer starren Umgebung
lebt, ist einmal glu? cklich und sechs andere Male
unglu? cklich.
Weininger hatte sich durch sein wissenschaftliches
Gebaren in einem unertra? glichen Zustand fixiert.
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Er hatte aus einer voru? bergehenden Herzensnot zuerst
wissenschaftliche Lehrsa? tze und dann ein Lebens-
prinzip abgeleitet. Ha? tte er seine Anschauungen in
einem Roman ausgesprochen, mit ganz denselben
Worten, nur nicht mit diesem Anspruch auf un-
bedingte Geltung, so ha? tte er nach Belieben weiter-
leben ko? nnen. Nicht einmal von einem Philosophen
verlangt man, dass er nach seinen Grundsa? tzen lebt,
weil man ganz gut spu? rt, wieviel Schicksalsnot sich
hinter so mancher ? Erkenntnis" verbirgt. Wenn jemand
eine Maxime ausspricht, so will er gewo? hnlich nicht
danach leben, sondern sich durch das Aussprechen
Erleichterung von irgend einem Weh verschaffen.
Weininger wollte durch seine haarscharfe Beweis-
fu? hrung jeden Gedanken ausschliessen, dass es sich
bei seinen Behauptungen um eine A? usserung u? bler
Laune handeln ko? nne. Er lehnte perso? nliche Aus-
legungen immer sehr schroff ab. Er wollte nicht
zugeben, dass ihm das Thema u? berhaupt nahe gehe.
Aber zu innerst war er seiner Sache doch nicht
sicher. Gerade die Mu? he, die er sich gab, seinen
Grundsa? tzen die Treue zu wahren, beweist, dass er
ihnen misstraute. Er wollte die Wahrheit seiner An-
schauungen dadurch erweisen, dass er sie in die
Tat umsetzte. Er musste, um das Leben weiter zu
ertragen, sich in einem fort glauben machen, dass
er im Recht sei; dies konnte er nur durch strenge
Befolgung seiner Anschauungen. Nach diesen An-
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schauungen konnte er aber nicht leben, weil sie
weder wahr, noch seinem Wesen gema? ss waren.
Der Versuch, seine Grundsa? tze zu praktizieren,
machte ihn schon nach kurzer Zeit ko? rperlich und
seelisch unfa? hig, die Leiden eines solchen Versuches
weiter zu ertragen. Weiniger war ausserstande, seiner
Einsicht entsprechend zu leben, und er war zu
stolz, seiner so pomphaft verku? ndeten Einsicht ent-
gegen zu leben.
Dass Weininger sich dieses Dilemmas bewusst
war, beweist sein Ausspruch: Er oder sein Werk
mu? sse sterben. Es ist nichts versta? ndlicher, als da?
er es vorgezogen hat, sein Leben fu? r sein Werk
hinzugeben. Sein weiteres Leben ha? tte sich sehr un-
erquicklich gestaltet. Wa? re er, der seine Anschau-
ungen wie ein apostolisches Bekenntnis der Welt
verku? ndet hatte, durch einen Abfall hievon nicht
la? cherlich geworden? Einen schrecklicheren Ge-
danken konnte es fu? r Weininger, der so heiss be-
mu? ht war, seinem Leben Wu? rde zu verleihen, nicht
geben. Aber nicht nur der anderen, auch seiner
selbst wegen ha? tte es Weininger nie vermocht, sein
Werk durch die Tat zu verleugnen; die Selbst-
achtung war ihm Lebensbedu? rfnis. Allen eifrigen
Selbstbeobachtern ist dies eigen, dass sie am Leben
nur so lange Freude haben, als sie an sich selber
Wohlgefallen finden. Dieses Wohlgefallen wird nur
durch den vollkommenen Einklang von Denken,
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Reden und Handeln erzeugt. Endlich aber: Die
Liebe, die ans Leben bindet, jegliche Hoffnung auf
Liebe hatte Weininger aus seinem Leben verbannt.
Es befiel ihn Bangigkeit. Wie sollte er von diesem
Gefu? hle, a? rger als der Tod, je wieder genesen? Er
sah keinen Ausweg. Da nahm ihn die Verzweiflung.
Als er seinem Herzen die to? dliche Wunde zufu? gte,
war es schon la? ngst todkrank; er hatte es zum Tode
verurteilt, da er es von allen Banden loslo? ste. Es
war nicht zur Einsamkeit geschaffen. Es war ein
gutes, bedu? rftiges Kinderherz.
Das war Weiningers Geschick, von allen un-
seligen Nebenumsta? nden losgelo? st. Es gab leider
auch solche. Dazu geho? rte die Erscho? pfung, in die
er nach der Vollendung seines Werkes verfiel. Diese
Erscho? pfung ist ein bei produktiven Menschen ganz
normaler, wenn auch nicht angenehmer Zustand.
Produktive Menschen fu? hlen sich nur wohl, wenn
sie an einem Werk tragen. Es gibt fu? r sie nichts
A? rgeres als die o? de, leere Zeit, die auf die Ent-
bindung von einem Werk folgt. Schwere Verstim-
mungen sind ganz gewo? hnlich; und der Gedanke,
dass man vielleicht sein Letztes hergegeben habe,
kann sie zur Verzweiflung steigern. Jeder Mensch
braucht zum Leben eine Absicht fu? r morgen. Lebens-
ziele erhalten am Leben; oder vielmehr so: Lebens-
ziele sind ein Beweis, dass jemand noch Leben vor
sich hat. Deshalb ruft der zeitweilige Mangel an
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einem Lebensziel das Gefu? hl hervor, dass es nun
mit dem Leben aus sei. Ha? tte Weininger ein neues
Werk in sich keimen gespu? rt, so wa? re er gegen
alle Not gefeit gewesen; nichts ha? tte ihn dazu ge-
bracht, diesen Keim mit sich selber zu to? ten. Es
gibt auch gegen die geistige Nachkommenschaft
eine Pflicht, die in schweren Stunden aufrecht
erha? lt.
Zur Verschlimmerung seines Zustandes trug
auch viel die Wirkung des Buches bei. Er wurde
bald gewahr, was fu? r einen Aufruhr es in den
Ko? pfen und Herzen erzeugte. Nun mo? chte man
glauben, diese Wirkung sei berechnet und gewu? nscht
gewesen. Es war aber offenbar doch nicht so. Ich
erinnere da an eine Beobachtung, die man in Ver-
sammlungen ha? ufig machen kann: Es ha? lt jemand
ku? hn und keck eine donnernde Rede, von deren
Wirkung er unmo? glich u? berrascht sein kann. Wie
aber die Wirkung eintritt und der Sturm unter den
Zuho? rern losbricht, da erbleicht der Redner auf ein-
mal und bietet ein kla? gliches Bild. Es sind das
offenbar Leute mit ganz oberfla? chlicher Beziehung
zur Aussenwelt, die eine beleidigende Rede halten,
wie man einen Brief schreibt, den man dann in der
Lade liegen la? sst. Sie reden fu? r sich; sie werden erst
durch die Wirkung ihrer Rede ins Leben gerufen.
Auch Weininger ist erst durch die Folgen seines
Werkes wach geworden. Ich glaube, er ha? tte gerne
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bekannt, dass er's nicht so ernst gemeint habe.
Seine Gedanken waren nur eine du? ster-pra? chtige
Phantasie; er hatte zu innerst sicher auch keine
andere Auffassung davon. Und nun sah er auf
einmal Leidenschaften gegen sich entfacht, ho? rte
rauhes Geza? nke und sah ergrimmte Mienen. Da
erfuhr er erst, dass Worte Taten sein ko? nnen und
was das sei, eine Tat, und was das heisse, Verant-
wortung. So kam zu allem u? brigen auch noch
diese Last.
Aber, so einzig schwierig Weiningers Lage war,
es wa? re ihm doch zu helfen gewesen. Er selbst
konnte sich unmo? glich halten, aber andere ha?
solche Richtigstellung kann man in unza? hligen Fa? llen
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vornehmen: Alle U? belgelaunten schieben ihre Laune
auf Gru? nde, die ohne ihre Laune fu? r sie gar nicht
da wa? ren. Die Laune wird nicht durch Gru? nde be-
wirkt, sondern sie na? hrt sich damit. Es besteht
zwischen seelischen Zusta? nden und allem, was sie
hervorrufen ko? nnte, eine unvermeidliche Anziehung.
Weininger findet an W schlechte Eigenschaften,
weil man auf Grund schlechter Eigenschaften wirk-
lich jemandem abgeneigt sein kann. Die ganze
Wahrheit findet nur ein vo? llig unabha? ngiger Geist.
Gefu? hle befa? higen zu ausgesprochenen Ansichten,
aber nicht zu Einsicht. Indes kann auch ein von
allen Launen des Gemu? tes Heimgesuchter zur Wahr-
heit gelangen, wenn er die wechselnden Ansichten
zusammenfasst: Das Lob von heute und den Tadel
von morgen. Die Einsicht entsteht aus vielen An-
sichten wie das weisse Licht aus den Farben des
Spektrums.
Weininger hat von W nur eine einzige Ansicht
gehabt und diese gab er fu? r die ho? chste Einsicht
aus. Man kann dies auch so ausdru? cken: Er erhob
vereinzelte Beobachtungen zum Gesetz. Warum er
dies tat, ist schon bei anderer Gelegenheit erwa? hnt
worden: Er gab seinen Beobachtungen dadurch die
gewu? nschte beleidigende Scha? rfe. Denn sonst ge-
ho? rte Weininger keineswegs zu den vorschnellen
Verallgemeinern; er hatte es bei seinen Fa? higkeiten
nicht notwendig, in ungeduldigem Ehrgeiz Natur-
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gesetze zu oktroyieren. Er hatte als Genie auch ein
Gefu? hl dafu? r, was sich bei umfassenderer Nach-
forschung wohl als allgemein erweisen wu? rde; nur
die Unbedeutenden, Ahnungslosen, mu? ssen sich
immer erst vergewissern, nur fu? r sie gibt es nichts
von vornherein Gewisses.
Aber noch einen grossen Dienst leistete sich
Weininger, indem er Beobachtungen zum Gesetz
erhob. In dem Augenblick, wo etwas allgemein
gilt, ist es, fu? r den geborenen Philosophen wenigstens,
auch ertra? glich. Die einen tro? sten sich und sagen:
? So sind ja nicht alle! ", die anderen, die ? Philo-
sophen", sagen: ? So sind sie alle! " und finden
gerade darin Trost. Das ist die Gesetzeswohltat
des denkenden Menschen. In den Reden Unglu? ck-
licher kommt ha? ufig die ? ganze Welt" vor; was
von der ganzen Welt gilt -- wie sollte sich dem
der Einzelne entziehen ko? nnen. Man erstickt die
drohende Revolte im Innern dadurch, dass man
sich zum Untertan einer allma? chtigen und unerbitt-
lichen Notwendigkeit macht. Notwendigkeit ist das
beste Beruhigungsmittel. Wenn Weininger nach
dem Sinn des Weibes im Universum forscht, so
will er nur seine unerfreulichen Beobachtungen als
notwendige A? usserungen eines allumfassenden Ge-
setzes darstellen.
Endlich ist noch ein Kunstgriff zu erwa? hnen,
den Weininger mit seinen Beobachtungen ha? ufig
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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vornimmt: Er deutet sie missgu? nstig. So z. B. die
Kuppelei, in der er die allgemeinste Eigenschaft
von W erblickt. Zuvo? rderst ist es nicht wahr,
dass W ausnahmlos kuppelt; aber wenn es auch
wahr wa? re: Ist die Kuppelei, als Interesse an der
Fortpflanzung aufgefasst, wirklich etwas so Verab-
scheuungswu? rdiges? Ganz im Gegenteil. Das In-
teresse an der Fortpflanzung zeugt vielmehr von
dem Bedu? rfnis nach Ho? herentwicklung, welche eben
fu? r die meisten Menschen nur in einem spa? teren
Leben mo? glich ist. Der Geschlechtstrieb ist ein
dumpfer Vervollkommnungstrieb; und er ist dies ge-
rade bei den unbedeutenden Menschen, die Weininger
deswegen anklagt. Blosse Sinnlichkeit, verdammens-
werte Sinnlichkeit liegt erst im Geschlechtstrieb jener
Menschen, denen an der Fortpflanzung nichts mehr
liegt, weil sie schon Letzte ihres Geschlechtes, Vol-
lender sind. Der Geschlechtstrieb der hervorragenden
Menschen hat etwas Sinnloses und daher Su? nd-
haftes; der des gewo? hnlichen Menschen hingegen,
des Zwischengliedes der Generationen, ist seinem
Zwecke gema? ss etwas Heiliges. Es ist eine Unter-
stellung, wenn behauptet wird, dass die um Nach-
kommenschaft Besorgten das Menschengeschlecht
vor dem Aussterben bewahren wollen. Man horche
nur genauer auf die A? usserungen der Erzeuger hin.
Ihre Sehnsucht ist auf eine ho? here Daseinsstufe ge-
richtet, die sie wenigstens in ihren Kindern erreichen
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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wollen. Die Menschen wollen nicht ewig als Menschen
weiterleben; sie wollen aussterben, aber in Geistes-
kindern. --
Mit seinen falschen Deutungen richtiger Tat-
sachen hat Weininger das gro? sste Unheil unter seinen
Lesern angerichtet. Darin liegt das Verfu? hrerische
seines Buches und deshalb fu? hlen sich die meisten
so hilflos dagegen: Die Tatsachen sind nicht zu be-
streiten und die Deutungen schwer zu widerlegen.
Nicht mit seinen Beobachtungen hat also
Weininger Unrecht, sondern mit deren Wertung.
Diese Misswertung hatte nun aber einen besonderen
Grund: Er wollte sich von seinem Hass durch Be-
leidigung befreien. Vieles in seinem Buche ist ganz
offenbar darauf angelegt, A? rgernis bei dem andern
Geschlecht zu erregen; so wollte er von dem eigenen
A? rger genesen.
Alle bedeutenden Bu? cher, die guten und die
bo? sen, sind gewidmet. Beatrice, Mathilde brauchen
nicht genannt zu sein; ja nicht einmal gelebt zu
haben. Jedes Werk tra? gt zumindest die anonyme
Widmung an eine ertra? umte Geliebte. Die guten
Werke sind der glu? cklich Geliebten, die bo? sen der
unglu? cklich Geliebten, der Gehassten, gewidmet. Die
guten Werke sollen die Geliebte erfreuen, die bo? sen
sollen ihr irgend ein Unlustgefu? hl, A? rger, Widerwillen,
Abscheu, Grauen, verursachen.
Eine solche Widmung scheint auch Weiningers
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Werk zu tragen. Es ist ihm zwar sicher keine Un-
bill widerfahren, die im richtigen Verha? ltnis zu seiner
Rache stu? nde. Allein, wie wenig Erfahrung braucht
ein scho? pferischer Mensch, um sofort das A? usserste
zu erleben. In scho? pferischen Menschen wird ja alles
nur ausgelo? st. Sie sind ganz Mo? glichkeit und brauchen
daher zum Leben am wenigsten Wirklichkeit. Viel-
leicht war es nur ein winziger peinlicher Eindruck,
fu? r den sich Weininger Genugtuung verschaffen
wollte; unzweifelhaft ist, dass er dies wollte. Und er
konnte es auch, wie niemand ausser ihm; kraft seiner
wissenschaftlichen Begabung konnte er seine An-
griffe gegen das ganze Geschlecht richten und ihnen
den denkbar gro? ssten Nachdruck verleihen. Und
wenn ich nur das angerichtete U? bel u? berschaue,
von dem ich weiss, die Beunruhigung und Kra? nkung
so manchen edlen Frauenherzens, muss ich sagen,
seine Absicht ist ihm vollkommen gelungen. Allein,
gerade das war sein Verha? ngnis. Er hatte sich mit
dem Buch, durch das er gesunden wollte, jede
Lebensmo? glichheit abgeschnitten.
Als Weininger ? Geschlecht und Charakter"
vollendet hatte, empfand er eine ungeheure Be-
friedigung; er hatte sich von seinem Groll gru? nd-
lich losgesprochen. Er triumphierte. Aber dieser
Triumph sollte ihn das Leben kosten. Derselbe
Umstand, der seinen Sieg anscheinend so voll-
sta? ndig machte, fu? hrte sein Verderben herbei: Die
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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Wissenschaftlichkeit des Antifeminismus. Weininger
war gar kein Weiberfeind, seine wissenschaftlichen
Anschauungen u? ber das Weib zwangen ihn aber, einer
zu sein, wenn er nicht seine Wissenschaft preis-
geben wollte.
Dazu konnte er sich nun nicht ent-
schliessen und den Hass vertrug er nicht -- das war
die verzweifelt schwierige Lage, in die ihn sein
Buch gebracht hatte.
Es waren schon viele Weiberhasser vor Wei-
ninger da, aber keiner hatte, zu seinem Glu? ck, ver-
mocht, seine Meinung in eine wissenschaftliche
Form zu bringen. Wenn einer reuig zu den Ge-
schma? hten zuru? ckkehren wollte, so stand dem nichts
entgegen; nichts, als die A? usserung einer voru? ber-
gehenden Laune. Launen verpflichten nicht; Launen
darf man, Launen soll man wechseln.
Es ist das gro? sste Unheil, welches der ewige
Wechsel der Launen anrichten kann, wenn sich
jemand durch eine Laune zu weittragenden Hand-
lungen verleiten la? sst, die nur in dieser Laune und
sonst keinen Sinn haben. Die wichtigste Lebens-
bedingung fu? r einen Launenhaften ist eine nach-
giebige Umgebung: nachgiebige Menschen, nach-
giebige Verha? ltnisse. Wer in einer starren Umgebung
lebt, ist einmal glu? cklich und sechs andere Male
unglu? cklich.
Weininger hatte sich durch sein wissenschaftliches
Gebaren in einem unertra? glichen Zustand fixiert.
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Er hatte aus einer voru? bergehenden Herzensnot zuerst
wissenschaftliche Lehrsa? tze und dann ein Lebens-
prinzip abgeleitet. Ha? tte er seine Anschauungen in
einem Roman ausgesprochen, mit ganz denselben
Worten, nur nicht mit diesem Anspruch auf un-
bedingte Geltung, so ha? tte er nach Belieben weiter-
leben ko? nnen. Nicht einmal von einem Philosophen
verlangt man, dass er nach seinen Grundsa? tzen lebt,
weil man ganz gut spu? rt, wieviel Schicksalsnot sich
hinter so mancher ? Erkenntnis" verbirgt. Wenn jemand
eine Maxime ausspricht, so will er gewo? hnlich nicht
danach leben, sondern sich durch das Aussprechen
Erleichterung von irgend einem Weh verschaffen.
Weininger wollte durch seine haarscharfe Beweis-
fu? hrung jeden Gedanken ausschliessen, dass es sich
bei seinen Behauptungen um eine A? usserung u? bler
Laune handeln ko? nne. Er lehnte perso? nliche Aus-
legungen immer sehr schroff ab. Er wollte nicht
zugeben, dass ihm das Thema u? berhaupt nahe gehe.
Aber zu innerst war er seiner Sache doch nicht
sicher. Gerade die Mu? he, die er sich gab, seinen
Grundsa? tzen die Treue zu wahren, beweist, dass er
ihnen misstraute. Er wollte die Wahrheit seiner An-
schauungen dadurch erweisen, dass er sie in die
Tat umsetzte. Er musste, um das Leben weiter zu
ertragen, sich in einem fort glauben machen, dass
er im Recht sei; dies konnte er nur durch strenge
Befolgung seiner Anschauungen. Nach diesen An-
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schauungen konnte er aber nicht leben, weil sie
weder wahr, noch seinem Wesen gema? ss waren.
Der Versuch, seine Grundsa? tze zu praktizieren,
machte ihn schon nach kurzer Zeit ko? rperlich und
seelisch unfa? hig, die Leiden eines solchen Versuches
weiter zu ertragen. Weiniger war ausserstande, seiner
Einsicht entsprechend zu leben, und er war zu
stolz, seiner so pomphaft verku? ndeten Einsicht ent-
gegen zu leben.
Dass Weininger sich dieses Dilemmas bewusst
war, beweist sein Ausspruch: Er oder sein Werk
mu? sse sterben. Es ist nichts versta? ndlicher, als da?
er es vorgezogen hat, sein Leben fu? r sein Werk
hinzugeben. Sein weiteres Leben ha? tte sich sehr un-
erquicklich gestaltet. Wa? re er, der seine Anschau-
ungen wie ein apostolisches Bekenntnis der Welt
verku? ndet hatte, durch einen Abfall hievon nicht
la? cherlich geworden? Einen schrecklicheren Ge-
danken konnte es fu? r Weininger, der so heiss be-
mu? ht war, seinem Leben Wu? rde zu verleihen, nicht
geben. Aber nicht nur der anderen, auch seiner
selbst wegen ha? tte es Weininger nie vermocht, sein
Werk durch die Tat zu verleugnen; die Selbst-
achtung war ihm Lebensbedu? rfnis. Allen eifrigen
Selbstbeobachtern ist dies eigen, dass sie am Leben
nur so lange Freude haben, als sie an sich selber
Wohlgefallen finden. Dieses Wohlgefallen wird nur
durch den vollkommenen Einklang von Denken,
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Reden und Handeln erzeugt. Endlich aber: Die
Liebe, die ans Leben bindet, jegliche Hoffnung auf
Liebe hatte Weininger aus seinem Leben verbannt.
Es befiel ihn Bangigkeit. Wie sollte er von diesem
Gefu? hle, a? rger als der Tod, je wieder genesen? Er
sah keinen Ausweg. Da nahm ihn die Verzweiflung.
Als er seinem Herzen die to? dliche Wunde zufu? gte,
war es schon la? ngst todkrank; er hatte es zum Tode
verurteilt, da er es von allen Banden loslo? ste. Es
war nicht zur Einsamkeit geschaffen. Es war ein
gutes, bedu? rftiges Kinderherz.
Das war Weiningers Geschick, von allen un-
seligen Nebenumsta? nden losgelo? st. Es gab leider
auch solche. Dazu geho? rte die Erscho? pfung, in die
er nach der Vollendung seines Werkes verfiel. Diese
Erscho? pfung ist ein bei produktiven Menschen ganz
normaler, wenn auch nicht angenehmer Zustand.
Produktive Menschen fu? hlen sich nur wohl, wenn
sie an einem Werk tragen. Es gibt fu? r sie nichts
A? rgeres als die o? de, leere Zeit, die auf die Ent-
bindung von einem Werk folgt. Schwere Verstim-
mungen sind ganz gewo? hnlich; und der Gedanke,
dass man vielleicht sein Letztes hergegeben habe,
kann sie zur Verzweiflung steigern. Jeder Mensch
braucht zum Leben eine Absicht fu? r morgen. Lebens-
ziele erhalten am Leben; oder vielmehr so: Lebens-
ziele sind ein Beweis, dass jemand noch Leben vor
sich hat. Deshalb ruft der zeitweilige Mangel an
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einem Lebensziel das Gefu? hl hervor, dass es nun
mit dem Leben aus sei. Ha? tte Weininger ein neues
Werk in sich keimen gespu? rt, so wa? re er gegen
alle Not gefeit gewesen; nichts ha? tte ihn dazu ge-
bracht, diesen Keim mit sich selber zu to? ten. Es
gibt auch gegen die geistige Nachkommenschaft
eine Pflicht, die in schweren Stunden aufrecht
erha? lt.
Zur Verschlimmerung seines Zustandes trug
auch viel die Wirkung des Buches bei. Er wurde
bald gewahr, was fu? r einen Aufruhr es in den
Ko? pfen und Herzen erzeugte. Nun mo? chte man
glauben, diese Wirkung sei berechnet und gewu? nscht
gewesen. Es war aber offenbar doch nicht so. Ich
erinnere da an eine Beobachtung, die man in Ver-
sammlungen ha? ufig machen kann: Es ha? lt jemand
ku? hn und keck eine donnernde Rede, von deren
Wirkung er unmo? glich u? berrascht sein kann. Wie
aber die Wirkung eintritt und der Sturm unter den
Zuho? rern losbricht, da erbleicht der Redner auf ein-
mal und bietet ein kla? gliches Bild. Es sind das
offenbar Leute mit ganz oberfla? chlicher Beziehung
zur Aussenwelt, die eine beleidigende Rede halten,
wie man einen Brief schreibt, den man dann in der
Lade liegen la? sst. Sie reden fu? r sich; sie werden erst
durch die Wirkung ihrer Rede ins Leben gerufen.
Auch Weininger ist erst durch die Folgen seines
Werkes wach geworden. Ich glaube, er ha? tte gerne
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bekannt, dass er's nicht so ernst gemeint habe.
Seine Gedanken waren nur eine du? ster-pra? chtige
Phantasie; er hatte zu innerst sicher auch keine
andere Auffassung davon. Und nun sah er auf
einmal Leidenschaften gegen sich entfacht, ho? rte
rauhes Geza? nke und sah ergrimmte Mienen. Da
erfuhr er erst, dass Worte Taten sein ko? nnen und
was das sei, eine Tat, und was das heisse, Verant-
wortung. So kam zu allem u? brigen auch noch
diese Last.
Aber, so einzig schwierig Weiningers Lage war,
es wa? re ihm doch zu helfen gewesen. Er selbst
konnte sich unmo? glich halten, aber andere ha?
