ngt zuviel am Leben,
der ist im Jenseits noch nicht heimisch genug.
der ist im Jenseits noch nicht heimisch genug.
Weininger - 1923 - Tod
Es gab leider
auch solche. Dazu geho? rte die Erscho? pfung, in die
er nach der Vollendung seines Werkes verfiel. Diese
Erscho? pfung ist ein bei produktiven Menschen ganz
normaler, wenn auch nicht angenehmer Zustand.
Produktive Menschen fu? hlen sich nur wohl, wenn
sie an einem Werk tragen. Es gibt fu? r sie nichts
A? rgeres als die o? de, leere Zeit, die auf die Ent-
bindung von einem Werk folgt. Schwere Verstim-
mungen sind ganz gewo? hnlich; und der Gedanke,
dass man vielleicht sein Letztes hergegeben habe,
kann sie zur Verzweiflung steigern. Jeder Mensch
braucht zum Leben eine Absicht fu? r morgen. Lebens-
ziele erhalten am Leben; oder vielmehr so: Lebens-
ziele sind ein Beweis, dass jemand noch Leben vor
sich hat. Deshalb ruft der zeitweilige Mangel an
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einem Lebensziel das Gefu? hl hervor, dass es nun
mit dem Leben aus sei. Ha? tte Weininger ein neues
Werk in sich keimen gespu? rt, so wa? re er gegen
alle Not gefeit gewesen; nichts ha? tte ihn dazu ge-
bracht, diesen Keim mit sich selber zu to? ten. Es
gibt auch gegen die geistige Nachkommenschaft
eine Pflicht, die in schweren Stunden aufrecht
erha? lt.
Zur Verschlimmerung seines Zustandes trug
auch viel die Wirkung des Buches bei. Er wurde
bald gewahr, was fu? r einen Aufruhr es in den
Ko? pfen und Herzen erzeugte. Nun mo? chte man
glauben, diese Wirkung sei berechnet und gewu? nscht
gewesen. Es war aber offenbar doch nicht so. Ich
erinnere da an eine Beobachtung, die man in Ver-
sammlungen ha? ufig machen kann: Es ha? lt jemand
ku? hn und keck eine donnernde Rede, von deren
Wirkung er unmo? glich u? berrascht sein kann. Wie
aber die Wirkung eintritt und der Sturm unter den
Zuho? rern losbricht, da erbleicht der Redner auf ein-
mal und bietet ein kla? gliches Bild. Es sind das
offenbar Leute mit ganz oberfla? chlicher Beziehung
zur Aussenwelt, die eine beleidigende Rede halten,
wie man einen Brief schreibt, den man dann in der
Lade liegen la? sst. Sie reden fu? r sich; sie werden erst
durch die Wirkung ihrer Rede ins Leben gerufen.
Auch Weininger ist erst durch die Folgen seines
Werkes wach geworden. Ich glaube, er ha? tte gerne
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bekannt, dass er's nicht so ernst gemeint habe.
Seine Gedanken waren nur eine du? ster-pra? chtige
Phantasie; er hatte zu innerst sicher auch keine
andere Auffassung davon. Und nun sah er auf
einmal Leidenschaften gegen sich entfacht, ho? rte
rauhes Geza? nke und sah ergrimmte Mienen. Da
erfuhr er erst, dass Worte Taten sein ko? nnen und
was das sei, eine Tat, und was das heisse, Verant-
wortung. So kam zu allem u? brigen auch noch
diese Last.
Aber, so einzig schwierig Weiningers Lage war,
es wa? re ihm doch zu helfen gewesen. Er selbst
konnte sich unmo? glich halten, aber andere ha? tten
ihn halten ko? nnen. Er war ja nicht Herr der Lage.
Seiner Selbstbeobachtung entging gerade der Punkt,
um den sich alles in ihm drehte. Kein Mensch u? ber-
sieht sich ganz. Das Unheilvollste war da eine Um-
gebung, die ihn mit seinen Augen ansah, die gerade
das an ihm bewunderte, was ihm selber gefiel.
Weininger ha? tte einen Tropfen blutsfremde Arznei
gebraucht; er ha? tte durch eine fremde Auffassung
zu einer andern Selbstbetrachtung angeleitet werden
mu? ssen. Aber wie ha? tte er Helfer finden sollen unter
denen, welchen er fu? r einen Heiland galt? Einen
Erlo? ser erlo? sen, einen Retter erretten, das konnte
natu? rlich diesen Gla? ubigen nicht in den Sinn kommen.
Es gibt u? brigens Menschen, die vom Leben nicht
anders beru? hrt werden als von einem Roman oder
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Schauspiel. Sie finden alles in Ordnung, wofern
es nur a? sthetisch wirkt; und sie sind imstande,
sich von anderen, ohne eine Hand zu ru? hren,
eine erschu? tternde Trago? die vorleben zu lassen.
So weit kann die Verwechslung von Vorstellung
und Wirklichkeit bei diesen harmlos-gefa? hrlichen
Menschen fu? hren, dass sie ihren Tra? umereien mit
kindlicher Unschuld sogar blutige Opfer bringen.
Wirklich leben sie eben nur die paar Male,
wo sie aufschrecken. Sie eignen sich vielleicht
zu Dramaturgen, aber nicht zu Ratgebern. --
Niemand wa? re natu? rlich imstande gewesen, an
Weiningers Leben, wie es sich nun einmal gestaltet
hatte, eine gru? ndliche Vera? nderung vorzunehmen.
Aber vielleicht wa? re es gelungen, ihn zu einem
Kompromiss zu bewegen zwischen seinen idealen
Forderungen und den Forderungen, die das Leben
unerbittlich, unabla? ssig stellt. Jeder Mensch erlebt
einmal den Schmerz, dass das Leben sich nicht in
gedanklicher Reinheit und Vollkommenheit durch-
fu? hren la? sst. Er wird aber bald der Naturnotwendig-
keit dieser Tatsache inne, gibt der Welt das Ihre
und dem Geist das Seine. Weininger konnte an
seinem Leben keine Freude mehr haben; aber man
ha? tte ihn wohl dazu vermocht, es zu tragen. Das
Leben ist ja doch der Gu? ter ho? chstes. Durch ein
ta? tiges Leben kann man mehr su? hnen als durch den
Tod. Durch den Tod wird in der Dichtung gesu? hnt;
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das Leben hat andere Gesetze als die Kunst; sonst
brauchte man die Kunst nicht.
Weininger hatte noch den heissen Wunsch, mit
dem so mancher ins Leben tritt: Traumscho? n wollte
er es gestalten, vollkommen wie ein Kunstwerk. Ob
nicht der Entschluss, sein Leben zu enden, von
diesem Wunsche beeinflusst war? Er schloss die Reihe
innerer Verwicklungen mit einem regelrechten fu? nften
Akt ab. Er behandelte sich so, wie ihn jeder Dichter
als Stoff ha? tte behandeln mu? ssen. Die Lo? sung war,
als Werk der Phantasie betrachtet, rein und be-
friedigend. Allein, was in der Kunst notwendig ist,
kann im Leben der helle Wahnsinn sein. Es ist das
vielleicht die gro? sste Gefahr jedes Selbstbeobachters,
dass er gleichzeitig Selbstgestalter ist, daher ein
ku? nstlerisches Interesse an sich hat und sich mit
Anforderungen qua? lt, die nur im Reich des Geistes
zu befriedigen sind.
Sehr bezeichnend ist, was Weininger einmal
wie eine Lebensregel ausspricht oder wie einen
Tadel gegen alle, die's anders machen: Tristan und
Isolde gehen in den Tod, nicht ins Brautbett. Der Miss-
verstand, als wa? re die Kunst eine Anleitung zu einem
vollkommenen Leben! Die Kunst hat man ja eben
deswegen, weil man nicht so scho? n leben kann, als
man mo? chte. Es ist auch mit scho? nen Gedanken nicht
anders. Maximen spricht man nicht aus, damit nach
ihnen gehandelt werde, sondern weil man nach ihnen
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nicht handeln kann. Man erholt sich von der irdischen
Unzula? nglichkeit im Reich das Vollkommenen. Das
Ideal verlangt gar nicht nach Verwirklichung, weil
es schon in Gedanken wirklich ist. Das Ideal ist
die ho? chste und letzte Wirklichkeit, nicht die Vor-
stufe zu einer gro? sseren Realita? t. Das Ideal verha? lt
sich zum Leben keineswegs wie der Gedanke einer
Erfindung zu seiner Ausfu? hrung. Das Leben ist fu? r
das Ideal der bildungsbedu? rftige Stoff. Wem das
Ideal noch nicht genu? gt, der ha?
ngt zuviel am Leben,
der ist im Jenseits noch nicht heimisch genug.
Tragische Konflikte stammen aus der Ver-
kennung dieses Sachverhaltes. Wer nach a? usserster
Reinheit strebt, wird erst recht schmutzig; wer jede
Sto? rung vermeiden will, kommt aus den Sto? rungen
nicht heraus; wer der Welt ganz entfliehen will, wird
erst recht in sie verstrickt.
Weiningers ru? cksichtsloses Streben nach Ver-
wirklichung des Gedankenhaften hat etwas Helden-
mu? tiges. Der Held ist eben derjenige, welcher das
Vollkommene im Leben anstrebt; im Gegensatz
zum Dichter, der es im Werk darstellt. Der Held
geht in den Tod, wenn es die Gerechtigkeit er-
fordert; der Dichter la? sst einen Helden an seiner
Statt sterben. Der Held ist ein Dichter in Taten,
der Dichter ein Held in Worten. Der Dichter nimmt
es mit dem Leben nie genau; dafu? r putzt er sich
dann im Werke heraus. Beim Helden ist Leben und
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 6
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Werk eines; seine Lebensfu? hrung wird durch die
Gesetze des Kunstwerkes bestimmt. Der Held ist
ein Lebensku? nstler im wahrsten Sinne des Wortes,
nicht einer, der sich das Leben angenehm zu machen
weiss, sondern der es so zu gestalten versteht, dass
es unter allen Umsta? nden einen befriedigenden, er-
hebenden Eindruck macht.
Einen solchen Eindruck macht es allerdings
nur auf die ra? umlich und zeitlich Fernstehenden,
welche es losgelo? st von der Umgebung betrachten.
Vom Hintergrund des allta? glichen Lebens hingegen
hebt sich der Held als u? berspannter Mensch ab.
Rigorismus jeder Art hat nur im Bereiche der Phantasie
volle Berechtigung. Alles Vollkommene muss im Leben
als U? berspanntheit erscheinen. Manches, was im
Werke entzu? ckt, wirkt im Leben geradezu peinlich.
Man kann danach die Behauptung aufstellen, dass u? ber-
haupt niemals ein Held existiert hat, insofern zur
Existenz nicht nur das Sein, sondern auch das Wahr-
genommenwerden geho? rt. Der Held, auch derjenige,
welcher schon bei Lebzeiten einer war, ersteht erst
nach seinem Tode in der Phantasie der Menschheit;
lebendig wird er nicht vertragen, weil seine Erschei-
nung nicht zum Erdenleben passt. Dieses ist seinem
Wesen nach eine ununterbrochene Reihe von Natur-
gesetzverstu? mmlungen, von Anpassungen, von Kom-
promissen. Als geschworenen Feind der Kompromisse
bezeichnet sich denn auch Cyrano von Bergerac,
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dieser typische Liebhaber des ? Kunstlebens", wie
man das Heldentum auch nennen ko? nnte.
Untadelhaft oder u? berspannt, je nach dem Stand-
punkte des Betrachters, war Weiningers Verhalten
in dem Kampf zwischen Geist und Sinnlichkeit, der,
wie schon zu Beginn erwa? hnt, das Hauptthema
seines Lebens bildet. Mancherlei Erscheinnungen in
der Literatur wie im Leben der gegenwa? rtigen
Generation lassen Klarheit u? ber das Verha? ltnis von
Geist und Sinnlichkeit als sehr wu? nschenswert er-
scheinen, und diesem wichtigen Zwecke dienen die
folgenden Ero? rterungen.
Es ist neuestensviel die Rede von Unterdru? ckung
des Geschlechtsbegehrens und Abneigung gegen das
Geschlechtsleben. Man hat die Entdeckung gemacht,
dass mannigfache schwere Erkrankungen, bisher als
nervo? s bezeichnet, in Hemmungen des Geschlechts-
triebes ihren Ursprung haben. Unlustzusta? nde aller
Art und aller Grade, von der einfachen Verstimmung
bis zur Verzweiflung ko? nnen davon kommen. Die
Richtigkeit dieses Zusammenhanges ist durch zahl-
reiche gla? nzende Analysen erha? rtet worden. Die
neue Einsicht hat auch eine neue Heilmethode
ermo? glicht, und dieser Umstand hat mit Recht viel
zur Hebung ihres Kredits beigetragen. Allein es
bleibt bei alldem eine sehr merkwu? rdige Tatsache
zu erkla? ren. Die nervo? sen Leiden kommen von der
Unterdru? ckung. Die Unterdru? ckung aber ist in den
6*
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meisten und gerade in den schwersten Fa? llen keine
a? ussere, sondern sie kommt von einer innerlichen
Abneigung gegen das Geschlechtsleben, gegen ge-
schlechtliche Dinge u? berhaupt. Da entsteht nun die
Frage nach der Herkunft dieser Abneigung. Wie
kommt jemand zu einer anscheinend so bestim-
mungswidrigen Empfindung? Welche Macht treibt
einen solchen Menschen, sich selber die a? rgsten
Martern zuzufu? gen, wa? hrend es nicht einmal eines
Opfers, sondern nur einer Annehmlichkeit bedu? rfte,
um gesund zu bleiben? Es kann gar nicht anders
sein, als dass es Menschen gibt, fu? r welche dieses
Verhalten, so verkehrt es scheint, durchaus ange-
messen ist. Man darf nicht vergessen, dass es ausser
den unbewusst Verdra? ngenden und Unterdru? ckenden
solche gibt, welche den Geschlechtstrieb ganz offen
und absichtlich beka? mpfen, und es kann keinem
Zweifel unterliegen, dass beiderlei Verhalten wesens-
gleich ist. Der Neurotiker ist nur ein unzula? nglicher
Asket. Um die unbewusste Abneigung und Verdra? n-
gung zu begreifen, tut man am besten, dem Wesen
der Askese, der Sinnesfeindlichkeit im allgemeinen,
nachzuforschen. Analyse reicht hierzu nicht aus; hier
helfen nur Gedanken weiter.
Es wa? re gefehlt und aussichtslos, nach dem
Grunde der Geschlechtsabneigung zu fragen. Der-
artige Erscheinungen haben keinen Grund, sondern
einen Sinn. Der Sinn einer Erscheinung aber ist die
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Funktion, die sie in einem gro? sseren Ganzen hat.
Am einzelnen Menschen ist die Geschlechtsabnei-
gung u? berhaupt nicht zu erkla? ren. Welches ist nun
das gro? ssere, die Deutung ermo? glichende Ganze? Die
Generation. Die Generation ist der na? chstho? here
physische Organismus, dem jeder als ein Glied
-- als Erster, Mittlerer oder Letzter angeho? rt. Der Ver-
laut der Generation ist im grossen Umriss folgender. Sie
beginnt irgendwann mit Individuen, welche aus-
schliesslich an der Erzeugung von Nachkommenschaft
und deren Versorgung interessiert sind, und endet mit
Individuen, welche an der leiblichen Fortpflanzung
nicht das geringste Interesse haben, dafu? r aber an
der Produktion von Werken und der Vollbringung
von Taten. Die Ersten der Generation streben die
leibliche Unsterblichkeit an, die Letzten die geistige.
Die Ersten sehnen sich nach Kindern, die Letzten
nach Ruhm. In den Letzten gelangt die Generation
zur Vergeistigung und damit zur Erhaltung in einer
andern Energieform. Die Umwandlung zu Geist,
und die sich daranschliessende Ausbreitung u? ber
Raum und Zeit ist offenbar der Endzweck des Lebens
der Generation. Das Leben des Einzelnen reicht
nicht hin zu Erlangung der Geistesreife. Es ist
daher die Fortpflanzung, die man mit Recht als ein
Wachstum u? ber den Tod hinaus bezeichnet hat,
notwendig, damit der Mensch wenigstens in einem
spa? ten Enkel ein Geisteskind werde.
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Dies ist der ideale Verlauf der Generation, der,
wie es in der Natur der Sache liegt, nur in Anna? he-
rungen wirklich vorkommt. Wer einen Blick fu? r
grosse Konturen hat, wird erkennen, dass die Gene-
ration in der dargelegten Bedeutung keine willku? r-
liche Konstruktion ist, sondern die Rekonstruktion
eines Gesetzes, aus dessen verdru? ckten und (ver-
stu? mmelten A? usserungen.
Die Konstatierung, dass es eine dem Individuum
u? bergeordnete Lebenseinheit, die Generation, gibt,
ist fu? r die Beurteilung des Einzelnen, seines Denkens,
Fu? hlens und Handelns, von gro? sster Wichtigkeit.
Denn alle diese Vorga? nge werden der Hauptsache
nach durch die Stellung bestimmt, die jemand in
der Generation einnimmt, durch die Generations-
stufe. Vor allem aber ist die Generationsstufe mass-
gebend fu? r das Geschlechtsleben. Der Geschlechts-
trieb spielt keineswegs bei allen Menschen die gleiche
Rolle, wie schon bei Besprechung der Kuppelei an-
gedeutet wurde und nunmehr begru? ndet werden
kann. Fu? r die Ersten und Mittleren ist der Ge-
schlechtstrieb ein Mittel, um dem Geiste na? her zu
kommen. Fu? r die Letzten dagegen hat der Ge-
schlechtstrieb keinen Sinn und Zweck. Logisch er-
gibt sich dies daraus, dass mit dem Genie, dem
geistig Produktiven, das naturgema? sse Ende der
Generation erreicht ist; u? ber das Genie hinaus gibt
es aber nichts auf Erden, und eine blosse Fort-
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Pflanzung ohne Entwicklung, also eine unvera? nderte
Neuauflage der Erzeuger, gibt es, wenigstens im
Menschenreiche, auch nicht. Aber auch die Tat-
sachen zeigen, dass der Geschlechtstrieb der Letzten
keinen Zweck hat, indem ihre Nachkommenschaft,
wofern sie u? berhaupt eine erlangen, an Leib und
Seele minderwertig und hinfa? llig ist. Alle Aus-
nahmen hiervon sind nur scheinbar und finden ihre
Begru? ndung teils in dem Umstand, dass jeder Mensch
von zwei Erzeugern stammt, die keineswegs die-
selbe hohe Generationsstufe einzunehmen brauchen,
teils in dem Umstand, dass der Mensch durch die
Fortpflanzung nicht nur sich selber zu erneuter
Aktualita? t bringt, sondern auch entferntere Ahnen,
die er im Keime latent u?
auch solche. Dazu geho? rte die Erscho? pfung, in die
er nach der Vollendung seines Werkes verfiel. Diese
Erscho? pfung ist ein bei produktiven Menschen ganz
normaler, wenn auch nicht angenehmer Zustand.
Produktive Menschen fu? hlen sich nur wohl, wenn
sie an einem Werk tragen. Es gibt fu? r sie nichts
A? rgeres als die o? de, leere Zeit, die auf die Ent-
bindung von einem Werk folgt. Schwere Verstim-
mungen sind ganz gewo? hnlich; und der Gedanke,
dass man vielleicht sein Letztes hergegeben habe,
kann sie zur Verzweiflung steigern. Jeder Mensch
braucht zum Leben eine Absicht fu? r morgen. Lebens-
ziele erhalten am Leben; oder vielmehr so: Lebens-
ziele sind ein Beweis, dass jemand noch Leben vor
sich hat. Deshalb ruft der zeitweilige Mangel an
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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einem Lebensziel das Gefu? hl hervor, dass es nun
mit dem Leben aus sei. Ha? tte Weininger ein neues
Werk in sich keimen gespu? rt, so wa? re er gegen
alle Not gefeit gewesen; nichts ha? tte ihn dazu ge-
bracht, diesen Keim mit sich selber zu to? ten. Es
gibt auch gegen die geistige Nachkommenschaft
eine Pflicht, die in schweren Stunden aufrecht
erha? lt.
Zur Verschlimmerung seines Zustandes trug
auch viel die Wirkung des Buches bei. Er wurde
bald gewahr, was fu? r einen Aufruhr es in den
Ko? pfen und Herzen erzeugte. Nun mo? chte man
glauben, diese Wirkung sei berechnet und gewu? nscht
gewesen. Es war aber offenbar doch nicht so. Ich
erinnere da an eine Beobachtung, die man in Ver-
sammlungen ha? ufig machen kann: Es ha? lt jemand
ku? hn und keck eine donnernde Rede, von deren
Wirkung er unmo? glich u? berrascht sein kann. Wie
aber die Wirkung eintritt und der Sturm unter den
Zuho? rern losbricht, da erbleicht der Redner auf ein-
mal und bietet ein kla? gliches Bild. Es sind das
offenbar Leute mit ganz oberfla? chlicher Beziehung
zur Aussenwelt, die eine beleidigende Rede halten,
wie man einen Brief schreibt, den man dann in der
Lade liegen la? sst. Sie reden fu? r sich; sie werden erst
durch die Wirkung ihrer Rede ins Leben gerufen.
Auch Weininger ist erst durch die Folgen seines
Werkes wach geworden. Ich glaube, er ha? tte gerne
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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bekannt, dass er's nicht so ernst gemeint habe.
Seine Gedanken waren nur eine du? ster-pra? chtige
Phantasie; er hatte zu innerst sicher auch keine
andere Auffassung davon. Und nun sah er auf
einmal Leidenschaften gegen sich entfacht, ho? rte
rauhes Geza? nke und sah ergrimmte Mienen. Da
erfuhr er erst, dass Worte Taten sein ko? nnen und
was das sei, eine Tat, und was das heisse, Verant-
wortung. So kam zu allem u? brigen auch noch
diese Last.
Aber, so einzig schwierig Weiningers Lage war,
es wa? re ihm doch zu helfen gewesen. Er selbst
konnte sich unmo? glich halten, aber andere ha? tten
ihn halten ko? nnen. Er war ja nicht Herr der Lage.
Seiner Selbstbeobachtung entging gerade der Punkt,
um den sich alles in ihm drehte. Kein Mensch u? ber-
sieht sich ganz. Das Unheilvollste war da eine Um-
gebung, die ihn mit seinen Augen ansah, die gerade
das an ihm bewunderte, was ihm selber gefiel.
Weininger ha? tte einen Tropfen blutsfremde Arznei
gebraucht; er ha? tte durch eine fremde Auffassung
zu einer andern Selbstbetrachtung angeleitet werden
mu? ssen. Aber wie ha? tte er Helfer finden sollen unter
denen, welchen er fu? r einen Heiland galt? Einen
Erlo? ser erlo? sen, einen Retter erretten, das konnte
natu? rlich diesen Gla? ubigen nicht in den Sinn kommen.
Es gibt u? brigens Menschen, die vom Leben nicht
anders beru? hrt werden als von einem Roman oder
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Schauspiel. Sie finden alles in Ordnung, wofern
es nur a? sthetisch wirkt; und sie sind imstande,
sich von anderen, ohne eine Hand zu ru? hren,
eine erschu? tternde Trago? die vorleben zu lassen.
So weit kann die Verwechslung von Vorstellung
und Wirklichkeit bei diesen harmlos-gefa? hrlichen
Menschen fu? hren, dass sie ihren Tra? umereien mit
kindlicher Unschuld sogar blutige Opfer bringen.
Wirklich leben sie eben nur die paar Male,
wo sie aufschrecken. Sie eignen sich vielleicht
zu Dramaturgen, aber nicht zu Ratgebern. --
Niemand wa? re natu? rlich imstande gewesen, an
Weiningers Leben, wie es sich nun einmal gestaltet
hatte, eine gru? ndliche Vera? nderung vorzunehmen.
Aber vielleicht wa? re es gelungen, ihn zu einem
Kompromiss zu bewegen zwischen seinen idealen
Forderungen und den Forderungen, die das Leben
unerbittlich, unabla? ssig stellt. Jeder Mensch erlebt
einmal den Schmerz, dass das Leben sich nicht in
gedanklicher Reinheit und Vollkommenheit durch-
fu? hren la? sst. Er wird aber bald der Naturnotwendig-
keit dieser Tatsache inne, gibt der Welt das Ihre
und dem Geist das Seine. Weininger konnte an
seinem Leben keine Freude mehr haben; aber man
ha? tte ihn wohl dazu vermocht, es zu tragen. Das
Leben ist ja doch der Gu? ter ho? chstes. Durch ein
ta? tiges Leben kann man mehr su? hnen als durch den
Tod. Durch den Tod wird in der Dichtung gesu? hnt;
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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das Leben hat andere Gesetze als die Kunst; sonst
brauchte man die Kunst nicht.
Weininger hatte noch den heissen Wunsch, mit
dem so mancher ins Leben tritt: Traumscho? n wollte
er es gestalten, vollkommen wie ein Kunstwerk. Ob
nicht der Entschluss, sein Leben zu enden, von
diesem Wunsche beeinflusst war? Er schloss die Reihe
innerer Verwicklungen mit einem regelrechten fu? nften
Akt ab. Er behandelte sich so, wie ihn jeder Dichter
als Stoff ha? tte behandeln mu? ssen. Die Lo? sung war,
als Werk der Phantasie betrachtet, rein und be-
friedigend. Allein, was in der Kunst notwendig ist,
kann im Leben der helle Wahnsinn sein. Es ist das
vielleicht die gro? sste Gefahr jedes Selbstbeobachters,
dass er gleichzeitig Selbstgestalter ist, daher ein
ku? nstlerisches Interesse an sich hat und sich mit
Anforderungen qua? lt, die nur im Reich des Geistes
zu befriedigen sind.
Sehr bezeichnend ist, was Weininger einmal
wie eine Lebensregel ausspricht oder wie einen
Tadel gegen alle, die's anders machen: Tristan und
Isolde gehen in den Tod, nicht ins Brautbett. Der Miss-
verstand, als wa? re die Kunst eine Anleitung zu einem
vollkommenen Leben! Die Kunst hat man ja eben
deswegen, weil man nicht so scho? n leben kann, als
man mo? chte. Es ist auch mit scho? nen Gedanken nicht
anders. Maximen spricht man nicht aus, damit nach
ihnen gehandelt werde, sondern weil man nach ihnen
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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nicht handeln kann. Man erholt sich von der irdischen
Unzula? nglichkeit im Reich das Vollkommenen. Das
Ideal verlangt gar nicht nach Verwirklichung, weil
es schon in Gedanken wirklich ist. Das Ideal ist
die ho? chste und letzte Wirklichkeit, nicht die Vor-
stufe zu einer gro? sseren Realita? t. Das Ideal verha? lt
sich zum Leben keineswegs wie der Gedanke einer
Erfindung zu seiner Ausfu? hrung. Das Leben ist fu? r
das Ideal der bildungsbedu? rftige Stoff. Wem das
Ideal noch nicht genu? gt, der ha?
ngt zuviel am Leben,
der ist im Jenseits noch nicht heimisch genug.
Tragische Konflikte stammen aus der Ver-
kennung dieses Sachverhaltes. Wer nach a? usserster
Reinheit strebt, wird erst recht schmutzig; wer jede
Sto? rung vermeiden will, kommt aus den Sto? rungen
nicht heraus; wer der Welt ganz entfliehen will, wird
erst recht in sie verstrickt.
Weiningers ru? cksichtsloses Streben nach Ver-
wirklichung des Gedankenhaften hat etwas Helden-
mu? tiges. Der Held ist eben derjenige, welcher das
Vollkommene im Leben anstrebt; im Gegensatz
zum Dichter, der es im Werk darstellt. Der Held
geht in den Tod, wenn es die Gerechtigkeit er-
fordert; der Dichter la? sst einen Helden an seiner
Statt sterben. Der Held ist ein Dichter in Taten,
der Dichter ein Held in Worten. Der Dichter nimmt
es mit dem Leben nie genau; dafu? r putzt er sich
dann im Werke heraus. Beim Helden ist Leben und
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 6
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Werk eines; seine Lebensfu? hrung wird durch die
Gesetze des Kunstwerkes bestimmt. Der Held ist
ein Lebensku? nstler im wahrsten Sinne des Wortes,
nicht einer, der sich das Leben angenehm zu machen
weiss, sondern der es so zu gestalten versteht, dass
es unter allen Umsta? nden einen befriedigenden, er-
hebenden Eindruck macht.
Einen solchen Eindruck macht es allerdings
nur auf die ra? umlich und zeitlich Fernstehenden,
welche es losgelo? st von der Umgebung betrachten.
Vom Hintergrund des allta? glichen Lebens hingegen
hebt sich der Held als u? berspannter Mensch ab.
Rigorismus jeder Art hat nur im Bereiche der Phantasie
volle Berechtigung. Alles Vollkommene muss im Leben
als U? berspanntheit erscheinen. Manches, was im
Werke entzu? ckt, wirkt im Leben geradezu peinlich.
Man kann danach die Behauptung aufstellen, dass u? ber-
haupt niemals ein Held existiert hat, insofern zur
Existenz nicht nur das Sein, sondern auch das Wahr-
genommenwerden geho? rt. Der Held, auch derjenige,
welcher schon bei Lebzeiten einer war, ersteht erst
nach seinem Tode in der Phantasie der Menschheit;
lebendig wird er nicht vertragen, weil seine Erschei-
nung nicht zum Erdenleben passt. Dieses ist seinem
Wesen nach eine ununterbrochene Reihe von Natur-
gesetzverstu? mmlungen, von Anpassungen, von Kom-
promissen. Als geschworenen Feind der Kompromisse
bezeichnet sich denn auch Cyrano von Bergerac,
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dieser typische Liebhaber des ? Kunstlebens", wie
man das Heldentum auch nennen ko? nnte.
Untadelhaft oder u? berspannt, je nach dem Stand-
punkte des Betrachters, war Weiningers Verhalten
in dem Kampf zwischen Geist und Sinnlichkeit, der,
wie schon zu Beginn erwa? hnt, das Hauptthema
seines Lebens bildet. Mancherlei Erscheinnungen in
der Literatur wie im Leben der gegenwa? rtigen
Generation lassen Klarheit u? ber das Verha? ltnis von
Geist und Sinnlichkeit als sehr wu? nschenswert er-
scheinen, und diesem wichtigen Zwecke dienen die
folgenden Ero? rterungen.
Es ist neuestensviel die Rede von Unterdru? ckung
des Geschlechtsbegehrens und Abneigung gegen das
Geschlechtsleben. Man hat die Entdeckung gemacht,
dass mannigfache schwere Erkrankungen, bisher als
nervo? s bezeichnet, in Hemmungen des Geschlechts-
triebes ihren Ursprung haben. Unlustzusta? nde aller
Art und aller Grade, von der einfachen Verstimmung
bis zur Verzweiflung ko? nnen davon kommen. Die
Richtigkeit dieses Zusammenhanges ist durch zahl-
reiche gla? nzende Analysen erha? rtet worden. Die
neue Einsicht hat auch eine neue Heilmethode
ermo? glicht, und dieser Umstand hat mit Recht viel
zur Hebung ihres Kredits beigetragen. Allein es
bleibt bei alldem eine sehr merkwu? rdige Tatsache
zu erkla? ren. Die nervo? sen Leiden kommen von der
Unterdru? ckung. Die Unterdru? ckung aber ist in den
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meisten und gerade in den schwersten Fa? llen keine
a? ussere, sondern sie kommt von einer innerlichen
Abneigung gegen das Geschlechtsleben, gegen ge-
schlechtliche Dinge u? berhaupt. Da entsteht nun die
Frage nach der Herkunft dieser Abneigung. Wie
kommt jemand zu einer anscheinend so bestim-
mungswidrigen Empfindung? Welche Macht treibt
einen solchen Menschen, sich selber die a? rgsten
Martern zuzufu? gen, wa? hrend es nicht einmal eines
Opfers, sondern nur einer Annehmlichkeit bedu? rfte,
um gesund zu bleiben? Es kann gar nicht anders
sein, als dass es Menschen gibt, fu? r welche dieses
Verhalten, so verkehrt es scheint, durchaus ange-
messen ist. Man darf nicht vergessen, dass es ausser
den unbewusst Verdra? ngenden und Unterdru? ckenden
solche gibt, welche den Geschlechtstrieb ganz offen
und absichtlich beka? mpfen, und es kann keinem
Zweifel unterliegen, dass beiderlei Verhalten wesens-
gleich ist. Der Neurotiker ist nur ein unzula? nglicher
Asket. Um die unbewusste Abneigung und Verdra? n-
gung zu begreifen, tut man am besten, dem Wesen
der Askese, der Sinnesfeindlichkeit im allgemeinen,
nachzuforschen. Analyse reicht hierzu nicht aus; hier
helfen nur Gedanken weiter.
Es wa? re gefehlt und aussichtslos, nach dem
Grunde der Geschlechtsabneigung zu fragen. Der-
artige Erscheinungen haben keinen Grund, sondern
einen Sinn. Der Sinn einer Erscheinung aber ist die
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Funktion, die sie in einem gro? sseren Ganzen hat.
Am einzelnen Menschen ist die Geschlechtsabnei-
gung u? berhaupt nicht zu erkla? ren. Welches ist nun
das gro? ssere, die Deutung ermo? glichende Ganze? Die
Generation. Die Generation ist der na? chstho? here
physische Organismus, dem jeder als ein Glied
-- als Erster, Mittlerer oder Letzter angeho? rt. Der Ver-
laut der Generation ist im grossen Umriss folgender. Sie
beginnt irgendwann mit Individuen, welche aus-
schliesslich an der Erzeugung von Nachkommenschaft
und deren Versorgung interessiert sind, und endet mit
Individuen, welche an der leiblichen Fortpflanzung
nicht das geringste Interesse haben, dafu? r aber an
der Produktion von Werken und der Vollbringung
von Taten. Die Ersten der Generation streben die
leibliche Unsterblichkeit an, die Letzten die geistige.
Die Ersten sehnen sich nach Kindern, die Letzten
nach Ruhm. In den Letzten gelangt die Generation
zur Vergeistigung und damit zur Erhaltung in einer
andern Energieform. Die Umwandlung zu Geist,
und die sich daranschliessende Ausbreitung u? ber
Raum und Zeit ist offenbar der Endzweck des Lebens
der Generation. Das Leben des Einzelnen reicht
nicht hin zu Erlangung der Geistesreife. Es ist
daher die Fortpflanzung, die man mit Recht als ein
Wachstum u? ber den Tod hinaus bezeichnet hat,
notwendig, damit der Mensch wenigstens in einem
spa? ten Enkel ein Geisteskind werde.
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Dies ist der ideale Verlauf der Generation, der,
wie es in der Natur der Sache liegt, nur in Anna? he-
rungen wirklich vorkommt. Wer einen Blick fu? r
grosse Konturen hat, wird erkennen, dass die Gene-
ration in der dargelegten Bedeutung keine willku? r-
liche Konstruktion ist, sondern die Rekonstruktion
eines Gesetzes, aus dessen verdru? ckten und (ver-
stu? mmelten A? usserungen.
Die Konstatierung, dass es eine dem Individuum
u? bergeordnete Lebenseinheit, die Generation, gibt,
ist fu? r die Beurteilung des Einzelnen, seines Denkens,
Fu? hlens und Handelns, von gro? sster Wichtigkeit.
Denn alle diese Vorga? nge werden der Hauptsache
nach durch die Stellung bestimmt, die jemand in
der Generation einnimmt, durch die Generations-
stufe. Vor allem aber ist die Generationsstufe mass-
gebend fu? r das Geschlechtsleben. Der Geschlechts-
trieb spielt keineswegs bei allen Menschen die gleiche
Rolle, wie schon bei Besprechung der Kuppelei an-
gedeutet wurde und nunmehr begru? ndet werden
kann. Fu? r die Ersten und Mittleren ist der Ge-
schlechtstrieb ein Mittel, um dem Geiste na? her zu
kommen. Fu? r die Letzten dagegen hat der Ge-
schlechtstrieb keinen Sinn und Zweck. Logisch er-
gibt sich dies daraus, dass mit dem Genie, dem
geistig Produktiven, das naturgema? sse Ende der
Generation erreicht ist; u? ber das Genie hinaus gibt
es aber nichts auf Erden, und eine blosse Fort-
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Pflanzung ohne Entwicklung, also eine unvera? nderte
Neuauflage der Erzeuger, gibt es, wenigstens im
Menschenreiche, auch nicht. Aber auch die Tat-
sachen zeigen, dass der Geschlechtstrieb der Letzten
keinen Zweck hat, indem ihre Nachkommenschaft,
wofern sie u? berhaupt eine erlangen, an Leib und
Seele minderwertig und hinfa? llig ist. Alle Aus-
nahmen hiervon sind nur scheinbar und finden ihre
Begru? ndung teils in dem Umstand, dass jeder Mensch
von zwei Erzeugern stammt, die keineswegs die-
selbe hohe Generationsstufe einzunehmen brauchen,
teils in dem Umstand, dass der Mensch durch die
Fortpflanzung nicht nur sich selber zu erneuter
Aktualita? t bringt, sondern auch entferntere Ahnen,
die er im Keime latent u?
