Denn bei dem
philosophischen
Teil
seines Werkes ist Weininger zum erstenmal einer
Ta?
seines Werkes ist Weininger zum erstenmal einer
Ta?
Weininger - 1923 - Tod
ussern.
Eine Ahnung
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von diesem Sachverhalt hatte er allerdings; es ist
bei seinem Scharfblick fu? r Zusammenha? nge im
Seelenleben gar nicht anders denkbar. Darum
konnte er auch, wenn man ihn auf illegitime Ein-
flu? sse in seinem Denken aufmerksam machte, so
heftig werden.
Allein in jenem Sommer 1901 war von alledem,
noch keine Spur wahrzunehmen. Die unheimlichen
Ma? chte, welche spa? ter auf Schleichwegen zur Herr-
schaft u? ber die Gedanken gelangten, schlummerten
noch. Weininger hatte damals bei all seiner fru? h-
reifen Gedankenvirtuosita? t und seiner Gelehrsamkeit
etwas Kindliches in seinem Wesen. Er war vom
Leben noch unberu? hrt, geschweige denn gezeichnet.
Er hatte schon einen ausgesprochenen Beruf, aber
ein Schicksal ha? tte man ihm, wie er so emsig immer
bei der Sache war, gar nicht zugetraut.
Mit diesem Seelenzustande stimmten auch seine
Lebensgewohnheiten u? berein: kaum eine Spur der
spa? teren Genussfeindlichkeit, wohl aber arglose Sinnes-
freudigkeit. Er war in dieser Hinsicht nicht sehr
selbsta? ndig und spontan; aber wenn er z. B. bei
einem Gelage mittat, so machte er durchaus nicht
den Eindruck eines Geno? tigten. Die Lebensfreude
war ihm keineswegs, wie manche seiner Bekannten
behauptet haben, wesensfremd.
So war Weininger, als ich ihn im Herbste des
Jahres 1901 verliess und auf zwei Semester fortging;
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wir schrieben einander in dieser Zeit sehr oft und
viel; u? brigens war ich auch einige Male in Wien,
wir verbrachten dann immer ganze Tage und halbe
Na? chte nach alter Gewohnheit in Gespra? chen. Hier-
bei konstatierte ich nun gar bald, dass mit Weininger
eine Vera? nderung vorgegangen war. Es interessierten
ihn ganz andere Probleme als fru? her; von M und
W war natu? rlich noch immer die Rede, viel mehr
aber vom intelligiblen Ich, u? berhaupt von der Kant-
schen Moralphilosophie und verwandten Gegen-
sta? nden. Es waren vorwiegend ethische Probleme,
welche Weininger in dieser Zeit absorbierten. Gleich-
zeitig mit den Problemen wechselte auch seine
Methode; er verliess die naturwissenschaftlich-
beobachtende und wandte sich der philosophisch-
deduzierenden zu, die spa? ter zur diktatorischen
wurde.
Weininger selbst war sehr stolz auf diese Wand-
lung. Es dauerte gar nicht lange, so sah er auf
seine naturwissenschaftliche Epoche mit fo? rmlicher
Verachtung zuru? ck und spa? terhin ha? tte er sie am
liebsten verleugnet. Ich war mit den gea? nderten
Verha? ltnissen nicht einverstanden und machte Wei-
ninger daraus kein Hehl. Der Grund meines Miss-
vergnu? gens lag zum Teil vermutlich in mir selber:
ich hatte gerade meine exakte Epoche und war fu? r
Spekulationen weniger empfa? nglich als sonst. Aber
der Hauptgrund war doch ein anderer. Ehe ich mich
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seiner Darlegung zuwende, mo? gen einige allgemeine
Bemerkungen Platz finden u? ber solche Wandlungen,
wie Weininger damals eine durchmachte.
Ich muss erwa? hnen, dass ich hieru? ber vor Jahren
noch anders dachte als heute. Damals schob ich
Weiningers Interessenwechsel zum Teil auf den Um-
gang mit neuen Freunden, zum Teil auf die a? ussere
Notwendigkeit -- er stand damals im vorletzten Se-
mester --, sich mehr mit Philosophie zu bescha? ftigen.
Allein, bei einem Genius wie Weininger konnte
a? usseren Umsta? nden ho? chstens eine fo? rdernde Wirkung
zukommen. Der Interessenwechsel ist etwas, was sich
ganz spontan vollzieht ebenso wie der Wechsel der
Launen. Man nehme Schaffende irgendwelchen Ge-
bietes her, so wird man an den Stoffen, die sie
wa? hlen, an den Problemen, die sie bearbeiten, eine
deutliche Schwankung wahrnehmen, deren genaue
Beschreibung und Erkla? rung fu? r eine zuku? nftige
Psychologie ein sehr scho? nes Thema ist. Ganz all-
gemein kann man sagen, es wechseln nu? chterne
und begeisterte, tiefe und oberfla? chliche Zeiten,
irdische Interessen mit u? berirdischen, naturwissen-
schaftliche Studien mit philosophischen. Die Plo? tz-
lichkeit dieses Wechsels, welche den meisten auf
einen a? usseren Einfluss hinzuweisen scheint, ist ge-
rade ein Beweis seiner inneren Bedingtheit. Auch
die Launen haben ihren Wettersturz; und was ich
hier als Interessenwechsel bezeichnet habe, ist eigent-
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lieh nichts als die Launenhaftigkeit, auf einem be-
stimmten Gebiete gea? ussert.
Die Folgen eines solchen Interessenwechsels
ko? nnen bei einem produktiven Menschen von zwei-
facher Art sein: Entweder wechselt er den Gegen-
stand seiner Bescha? ftigung oder er behandelt den-
selben Gegenstand von verschiedenen Gesichts-
punkten. Man nimmt den Gegenstand durch alle
Zusta? nde mit, von der Oberfla? chlichkeit bis zur
Tiefe, und gewinnt auf diese Weise alle mo? glichen
Ansichten, die in ihrer Gesamtheit die Einsicht
ergeben -- die Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts
Einfaches; sie ko? nnte nur dann einfach sein, wenn
es einen einzigen Zustand ga? be. Es gibt aber ihrer
eine ganze Anzahl -- vielleicht sieben --, die nicht
von aussen hervorgerufen werden, sondern vo? llig
spontan auftreten und einander in unvera? nderlicher
Ordnung folgen. So viele Zusta? nde, so viele An-
sichten. Es gibt nichts auf der Welt, woru? ber
man nicht die extremsten Ansichten a? ussern ko? nnte.
Diese Ansichten sind den Farben vergleichbar, aus
denen sich das weisse Licht zusammensetzt; die
sonnenhelle Einsicht, die Wahrheit, entsteht durch
die Zusammenfassung aller Ansichten. Man spricht
nicht mit Unrecht von einer individuellen Fa? rbung
der Gedanken; man ko? nnte ebenso gut von einer
Fa? rbung durch die jeweilige Laune sprechen.
Die Wahrheit wird meistens von mehreren zu-
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sammen, selten von einem allein gefunden. Die
ganze Wahrheit kann nur derjenige finden, der alle
menschlichen Zusta? nde kennt; dem nichts Mensch-
liches fremd ist. Nur wer alle mo? glichen Zusta? nde
hat, sieht eine Tatsache der Reihe nach in allen
mo? glichen Beleuchtungen. Doch ist dieser Fall selten;
meistens sind die verschiedenen Zusta? nde auf ver-
schiedene Individuen verteilt; der eine z. B. sieht
nur die Oberfla? che, der andere nur die Tiefe. Die
meisten Menschen sind einseitig; was nicht hindert,
dass sie in ihrer Art vollkommen sind. Sie sind ein-
seitig und beschra? nkt, das heisst, sie haben nur An-
sichten und keine Einsicht. Es gibt nicht nur be-
schra? nkte oberfla? chliche, sondern auch beschra? nkte
tiefe Menschen. Philosophen sind so ha? ufig keine
V/eisen, weil sie die Welt nicht auch oberfla? chlich
kennen.
Um nun an den Ausgangspunkt dieser Betrach-
tungen zuru? ckzukehren: Weininger war von der
Naturwissenschaft zur Philosophie, von feiner Beob-
achtung zu ku? hner Spekulation u? bergegangen. Er
hat alles, was ihm in dieser Zeit einfiel, spa? terhin
in sein Buch aufgenommen. Vieles davon steht mit
der Leitidee nur in losem Zusammenhange. Manches
aber, wie z. B. die Gedanken u? ber das Ich-Problem,
sind auf M und W geflissentlich angewendet. Bei
diesen angewendeten Gedanken entsteht nun die
eben vorbereitete Frage: Sind sie eine neue tiefere
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Ansicht u? ber M und W? Eine philosophische Be-
trachtung des urspru? nglich naturwissenschaftlich be-
handelten Gegenstandes? Eine andere Ansicht der
Wahrheit? Dieselben Tatsachen, nur mit einem an-
dern Organ erfasst, dem Organ des Geistes, und zu
Gedanken umgewandelt? Mein Empfinden hat diese
Frage von allem Anbeginn verneint. Mir schien
immer, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zu-
gehe; gewisse Partien, auf die sich Weininger ge-
rade am meisten zugute tat, machten mir den Ein-
druck des Gewaltsamen.
Dieser Punkt bedarf nun einer eingehenden
Ero? rterung.
Denn bei dem philosophischen Teil
seines Werkes ist Weininger zum erstenmal einer
Ta? uschung unterlegen, die ihm spa? terhin zum Ver-
derben werden sollte.
Es gibt zwei Arten, wie Werke entstehen:
organisch und mechanisch. Im ersten Fall ist der
Hergang folgender: Eines Tages blitzt die Grund-
idee des Werkes auf; aus dieser Grundidee ent-
wickeln sich im Laufe der Zeit eine Menge Haupt-
und Seitengedanken, die in ihrer Gesamtheit das
einheitlich geschlossene Werk geben. So ist z. B.
Schopenhauers System entstanden. Er hat diesen
Entstehungsprozess selber vortrefflich geschildert. Es
ist keineswegs notwendig, dass sich der System-
scho? pfer bei jedem Gedanken des Zusammenhanges
mit der Grundidee bewusst ist; fu? r diesen Zusammen-
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hang muss das Unbewusste garantieren. Notwendig
ist nur, dass alle Gedanken in der Art von Einfa? llen
kommen. Die einzelnen Gedanken eines grossen
Systems bilden sich ganz analog wie die Zellgruppen
in einem werdenden Organismus: vo? llig spontan; es
braucht nach dem ersten Anstoss zur Zellteilung
beim Organismus und nach dem Lebendigwerden
der Grundidee beim Werk kein a? usserer Einfluss mehr
hinzukommen. Er darf beim Werk gar nicht mehr
hinzukommen, soll dessen Einheitlichkeit nicht ge-
fa? hrdet werden. Es ist natu? rlich mo? glich, dass jemand
auf organischem Wege zu a? hnlichen oder gleichen
Gedanken wie ein anderer kommt, aber es wider-
spricht dem Begriffe der organischen Entstehung,
dass jemand seinem Werke fremde Gedanken ein-
verleibt oder auch eigene Gedanken am unrechten
Ort verwendet. Doch kann dies in ganz unauffa? lliger
Weise geschehen. Ich komme hiermit zur zweiten
Art der Werkbildung, der mechanischen.
Wenn ich sage mechanisch, so meine ich da-
mit nicht bloss a? usserlich zusammengetan. Es gibt
Maschinen, deren Teile besser ineinanderpassen
als die so manches Organismus. Es gibt Maschinen,
die viel besser funktionieren als mancher Orga-
nismus. Aus der Art, wie ein Werk gefu? gt ist,
kann man noch keinen Schluss ziehen auf seine Ent-
stehungsart und in weiterer Folge auf seinen Wahr-
heitsgehalt. Aphorismen ko? nnen zusammen ein System
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bilden; ein wohlgegliedertes und -gefu? gtes Ganzes
kann trotz alledem blosses Stu? ckwerk sein.
Der Unterschied zwischen organischen und
mechanischen Werken ist von der gro? ssten Wichtig-
keit bei der Beurteilung von Geistesprodukten. Er
ist aber sehr schwer zu machen, sowohl fu? r den
Scho? pfer des Werkes selber als fu? r die Aufnehmenden.
Auch das mechanische Werk entsteht na? mlich, wie
ich gleich na? her ausfu? hren werde, ganz von selbst,
wie das organische, nur nach anderen Prinzipien,
und macht daher auf seinen Scho? pfer den Eindruck
des Gewordenen. Und weil in ihm, eben seiner
automatischen Entstehung wegen, alles klappt, ist
der Aufnehmende geneigt, es fu? r einen Organismus
zu halten.
Das organische Werk erla? utert man sich natu? r-
lich am besten durch den Hinblick auf die Organismen,
das mechanische aber durch eine Betrachtung des
Traumlebens. In unseren Tra? umen ist eine ganz
merkwu? rdige Kraft ta? tig, eine scho? pferische Kraft,
wie man ziemlich allgemein behauptet, angeblich
dieselbe Kraft, welche den produktiven Menschen
zu seinen Leistungen befa? higt. Davon ist aber keine
Rede. Die Genialita? t des Tra? umers und die Traum-
haftigkeit des Schaffens sind eine leicht zu wider-
legende Unwahrheit. Das Wesen des Traumes, wie
man es am besten an den bizarren Tra? umen
demonstrieren kann, besteht in folgendem: Mehrere
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Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen, die zufa? llig
zusammentreffen oder alle in Beziehung zu einer
leitenden Idee stehen, passen sich aneinander an
and bilden ein sinnvolles -- wenn auch mitunter
anscheinend sinnloses -- Ganzes. Alles, was man
von den Tra? umen aussagen kann, dass sie z. B.
Gefu? hlsregungen, eine Idee zum Ausdruck bringen,
dass sie ein nachtra? glicher, vollsta? ndiger Ablauf des
Tagseelenlebens sind, charakterisiert sie nicht so
wie jene Fa? higkeit, aus ganz verschiedenartigen und
unzusammenha? ngenden Vorstellungen eine ver-
blu? ffende, gefa? llige, witzige oder doch ertra? gliche
Einheit herzustellen. Was von einzelnen Vorstellungen
gilt, das gilt auch von ganzen Situationen. Kommen
aus irgendwelchem Grunde zwei Situationen im
Traume zusammen, so durchdringen sie einander,
da und dort fa? llt etwas weg, was der Vereinigung
im Wege steht; wo 's not tut, kommt ein Hilfsglied
zur Verwendung, kurz, mit einem Raffinement,
welches man oft anstaunen und bela? cheln zu gleicher
Zeit muss, werden die zwei Situationen ausgeglichen;
a? hnlich etwa, wie sich jemand mit seinen Hausrat an
eine neue Wohnung anpasst. Freud, welcher diese
Vorga? nge in den Tra? umen zuerst untersuchte, sprach
von Kompromissbildungen. Ich habe, was auf dasselbe
hinauskommt, von einer Verbindung der Vorstellungen
nach dem Oesetz des meisten Sinnes gesprochen, weil
das im Traum entstehende seelische Neugebilde von
S w o b o d a, Otto Weiningers Tod. 2
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der Art ist, dass die dabei verwendeten Bestandteile
mo? glichst viel von ihrem Sinn behalten.
Es gibt nun eine Art des Produzierens, welche
mit den eben geschilderten Tra? umen im Wesen
vollkommen u? bereinstimmt. Zwei Gedanken, die
von Haus aus gar nicht verwandt sind, die -- wie
man sagen ko? nnte -- einen ganz verschiedenen
Familienursprung haben, kommen zufa? lligzusammen;
mit dem einen Gedanken tra? gt man sich z. B. gerade
und mit dem andern wird man durch Lektu? re oder
Gespra? ch bekannt. Wenn diese zwei Gedanken nun
in ihrem A? ussern sehr a? hnlich sind, so werden sie
sich, ohne unser Zutun, leicht miteinander verbinden.
Der eine Gedanke wird auf den andern ? angewendet",
wie auch die Bezeichnung lautet; von der ? nahelie-
genden Anwendung" ist oft die Rede. Auf diese Weise
kommen sehr viele brillante, gefa? llige, geistreiche,
witzige Neugebilde zustande, denen aber allsamt nicht
mehr Erkenntniswert zukommt als unseren Tra? umen.
Die Geschicklichkeit, mit der die einzelnen Bestand-
teile einer solchen Kompromisswahrheit zusammen-
gesetzt sind, ta? uscht ganz daru? ber hinweg, dass man
es mit keiner urspru? nglichen Einheit zu tun hat.
Was durch mechanische Verbindung entsteht, ist
in der Regel nicht mehr als ein Witz. Unter Witz ist
da natu? rlich nicht bloss die launige Rede zu verstehen.
Es gibt Witze bis in die ho? chsten Regionen des
menschlichen Denkens. Dickleibige philosophische
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Werke sind manchmal auf einen einzigen Witz auf-
gebaut, d. h. auf die a? ussere A? hnlichkeit zweier wesens-
fremder Tatsachen. Die Entscheidung, ob man es mit
einem Witz oder einer Erkenntnis zu tun habe, ist,
wie schon fru? her erwa? hnt, nicht leicht. Unter anderem
kann man nach der Wirkung schliessen: Der Witz ver-
blu? fft, der Witz entwaffnet, bringt den Gegner in Ver-
legenheit, unter Umsta? nden reizt er auf: das alles tut
eine Erkenntnis nicht.
Der Unterschied zwischen Witz und Erkenntnis
ist also vor allem ein genetischer: der Witz entsteht
durch a? usserliche Zusammenfu? gung a? usserlich a? hn-
licher Tatbesta? nde; er entsteht so wie alle anorga-
nischen Neugebilde. Zur Erkenntnis geho? rt u? berhaupt
nur eine Tatsache und das erkennende Subjekt; aus
dieser einen Tatsache entsteht im Erkennenden inner-
halb einer bestimmten Frist ganz von selber die Er-
kenntnis. Auch dies ist ein wesentlicher Unterschied
zwischen Witz und Erkenntnis: der Witz kommt
plo? tzlich, die Erkenntnis beno? tigt immer eine Reifezeit.
Eine Folge der verschiedenen Entstehungsart
ist der verschiedene Wert von Witz und Erkenntnis:
Der Witz verra? t das A? ussere der Dinge, die Erkenntnis
offenbart ihr Wesen. Der witzige Kopf entdeckt da
und dort ? wertvolle Beziehungen*, deckt Zusammen-
ha? nge in Hu? lle und Fu? lle auf, aber er bewirkt
damit kaum mehr als eine voru? bergehende Unter-
haltung auf einem Vortragsabend; dauernd bereichert
2*
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fu? hlt man sich eben auch durch den gla? nzendsten
Witz nicht. Eindringlich ist nur die Erkenntnis.
Der Witz oder, wie man auch sagen ko?
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von diesem Sachverhalt hatte er allerdings; es ist
bei seinem Scharfblick fu? r Zusammenha? nge im
Seelenleben gar nicht anders denkbar. Darum
konnte er auch, wenn man ihn auf illegitime Ein-
flu? sse in seinem Denken aufmerksam machte, so
heftig werden.
Allein in jenem Sommer 1901 war von alledem,
noch keine Spur wahrzunehmen. Die unheimlichen
Ma? chte, welche spa? ter auf Schleichwegen zur Herr-
schaft u? ber die Gedanken gelangten, schlummerten
noch. Weininger hatte damals bei all seiner fru? h-
reifen Gedankenvirtuosita? t und seiner Gelehrsamkeit
etwas Kindliches in seinem Wesen. Er war vom
Leben noch unberu? hrt, geschweige denn gezeichnet.
Er hatte schon einen ausgesprochenen Beruf, aber
ein Schicksal ha? tte man ihm, wie er so emsig immer
bei der Sache war, gar nicht zugetraut.
Mit diesem Seelenzustande stimmten auch seine
Lebensgewohnheiten u? berein: kaum eine Spur der
spa? teren Genussfeindlichkeit, wohl aber arglose Sinnes-
freudigkeit. Er war in dieser Hinsicht nicht sehr
selbsta? ndig und spontan; aber wenn er z. B. bei
einem Gelage mittat, so machte er durchaus nicht
den Eindruck eines Geno? tigten. Die Lebensfreude
war ihm keineswegs, wie manche seiner Bekannten
behauptet haben, wesensfremd.
So war Weininger, als ich ihn im Herbste des
Jahres 1901 verliess und auf zwei Semester fortging;
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wir schrieben einander in dieser Zeit sehr oft und
viel; u? brigens war ich auch einige Male in Wien,
wir verbrachten dann immer ganze Tage und halbe
Na? chte nach alter Gewohnheit in Gespra? chen. Hier-
bei konstatierte ich nun gar bald, dass mit Weininger
eine Vera? nderung vorgegangen war. Es interessierten
ihn ganz andere Probleme als fru? her; von M und
W war natu? rlich noch immer die Rede, viel mehr
aber vom intelligiblen Ich, u? berhaupt von der Kant-
schen Moralphilosophie und verwandten Gegen-
sta? nden. Es waren vorwiegend ethische Probleme,
welche Weininger in dieser Zeit absorbierten. Gleich-
zeitig mit den Problemen wechselte auch seine
Methode; er verliess die naturwissenschaftlich-
beobachtende und wandte sich der philosophisch-
deduzierenden zu, die spa? ter zur diktatorischen
wurde.
Weininger selbst war sehr stolz auf diese Wand-
lung. Es dauerte gar nicht lange, so sah er auf
seine naturwissenschaftliche Epoche mit fo? rmlicher
Verachtung zuru? ck und spa? terhin ha? tte er sie am
liebsten verleugnet. Ich war mit den gea? nderten
Verha? ltnissen nicht einverstanden und machte Wei-
ninger daraus kein Hehl. Der Grund meines Miss-
vergnu? gens lag zum Teil vermutlich in mir selber:
ich hatte gerade meine exakte Epoche und war fu? r
Spekulationen weniger empfa? nglich als sonst. Aber
der Hauptgrund war doch ein anderer. Ehe ich mich
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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seiner Darlegung zuwende, mo? gen einige allgemeine
Bemerkungen Platz finden u? ber solche Wandlungen,
wie Weininger damals eine durchmachte.
Ich muss erwa? hnen, dass ich hieru? ber vor Jahren
noch anders dachte als heute. Damals schob ich
Weiningers Interessenwechsel zum Teil auf den Um-
gang mit neuen Freunden, zum Teil auf die a? ussere
Notwendigkeit -- er stand damals im vorletzten Se-
mester --, sich mehr mit Philosophie zu bescha? ftigen.
Allein, bei einem Genius wie Weininger konnte
a? usseren Umsta? nden ho? chstens eine fo? rdernde Wirkung
zukommen. Der Interessenwechsel ist etwas, was sich
ganz spontan vollzieht ebenso wie der Wechsel der
Launen. Man nehme Schaffende irgendwelchen Ge-
bietes her, so wird man an den Stoffen, die sie
wa? hlen, an den Problemen, die sie bearbeiten, eine
deutliche Schwankung wahrnehmen, deren genaue
Beschreibung und Erkla? rung fu? r eine zuku? nftige
Psychologie ein sehr scho? nes Thema ist. Ganz all-
gemein kann man sagen, es wechseln nu? chterne
und begeisterte, tiefe und oberfla? chliche Zeiten,
irdische Interessen mit u? berirdischen, naturwissen-
schaftliche Studien mit philosophischen. Die Plo? tz-
lichkeit dieses Wechsels, welche den meisten auf
einen a? usseren Einfluss hinzuweisen scheint, ist ge-
rade ein Beweis seiner inneren Bedingtheit. Auch
die Launen haben ihren Wettersturz; und was ich
hier als Interessenwechsel bezeichnet habe, ist eigent-
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lieh nichts als die Launenhaftigkeit, auf einem be-
stimmten Gebiete gea? ussert.
Die Folgen eines solchen Interessenwechsels
ko? nnen bei einem produktiven Menschen von zwei-
facher Art sein: Entweder wechselt er den Gegen-
stand seiner Bescha? ftigung oder er behandelt den-
selben Gegenstand von verschiedenen Gesichts-
punkten. Man nimmt den Gegenstand durch alle
Zusta? nde mit, von der Oberfla? chlichkeit bis zur
Tiefe, und gewinnt auf diese Weise alle mo? glichen
Ansichten, die in ihrer Gesamtheit die Einsicht
ergeben -- die Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts
Einfaches; sie ko? nnte nur dann einfach sein, wenn
es einen einzigen Zustand ga? be. Es gibt aber ihrer
eine ganze Anzahl -- vielleicht sieben --, die nicht
von aussen hervorgerufen werden, sondern vo? llig
spontan auftreten und einander in unvera? nderlicher
Ordnung folgen. So viele Zusta? nde, so viele An-
sichten. Es gibt nichts auf der Welt, woru? ber
man nicht die extremsten Ansichten a? ussern ko? nnte.
Diese Ansichten sind den Farben vergleichbar, aus
denen sich das weisse Licht zusammensetzt; die
sonnenhelle Einsicht, die Wahrheit, entsteht durch
die Zusammenfassung aller Ansichten. Man spricht
nicht mit Unrecht von einer individuellen Fa? rbung
der Gedanken; man ko? nnte ebenso gut von einer
Fa? rbung durch die jeweilige Laune sprechen.
Die Wahrheit wird meistens von mehreren zu-
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sammen, selten von einem allein gefunden. Die
ganze Wahrheit kann nur derjenige finden, der alle
menschlichen Zusta? nde kennt; dem nichts Mensch-
liches fremd ist. Nur wer alle mo? glichen Zusta? nde
hat, sieht eine Tatsache der Reihe nach in allen
mo? glichen Beleuchtungen. Doch ist dieser Fall selten;
meistens sind die verschiedenen Zusta? nde auf ver-
schiedene Individuen verteilt; der eine z. B. sieht
nur die Oberfla? che, der andere nur die Tiefe. Die
meisten Menschen sind einseitig; was nicht hindert,
dass sie in ihrer Art vollkommen sind. Sie sind ein-
seitig und beschra? nkt, das heisst, sie haben nur An-
sichten und keine Einsicht. Es gibt nicht nur be-
schra? nkte oberfla? chliche, sondern auch beschra? nkte
tiefe Menschen. Philosophen sind so ha? ufig keine
V/eisen, weil sie die Welt nicht auch oberfla? chlich
kennen.
Um nun an den Ausgangspunkt dieser Betrach-
tungen zuru? ckzukehren: Weininger war von der
Naturwissenschaft zur Philosophie, von feiner Beob-
achtung zu ku? hner Spekulation u? bergegangen. Er
hat alles, was ihm in dieser Zeit einfiel, spa? terhin
in sein Buch aufgenommen. Vieles davon steht mit
der Leitidee nur in losem Zusammenhange. Manches
aber, wie z. B. die Gedanken u? ber das Ich-Problem,
sind auf M und W geflissentlich angewendet. Bei
diesen angewendeten Gedanken entsteht nun die
eben vorbereitete Frage: Sind sie eine neue tiefere
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:36 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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Ansicht u? ber M und W? Eine philosophische Be-
trachtung des urspru? nglich naturwissenschaftlich be-
handelten Gegenstandes? Eine andere Ansicht der
Wahrheit? Dieselben Tatsachen, nur mit einem an-
dern Organ erfasst, dem Organ des Geistes, und zu
Gedanken umgewandelt? Mein Empfinden hat diese
Frage von allem Anbeginn verneint. Mir schien
immer, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zu-
gehe; gewisse Partien, auf die sich Weininger ge-
rade am meisten zugute tat, machten mir den Ein-
druck des Gewaltsamen.
Dieser Punkt bedarf nun einer eingehenden
Ero? rterung.
Denn bei dem philosophischen Teil
seines Werkes ist Weininger zum erstenmal einer
Ta? uschung unterlegen, die ihm spa? terhin zum Ver-
derben werden sollte.
Es gibt zwei Arten, wie Werke entstehen:
organisch und mechanisch. Im ersten Fall ist der
Hergang folgender: Eines Tages blitzt die Grund-
idee des Werkes auf; aus dieser Grundidee ent-
wickeln sich im Laufe der Zeit eine Menge Haupt-
und Seitengedanken, die in ihrer Gesamtheit das
einheitlich geschlossene Werk geben. So ist z. B.
Schopenhauers System entstanden. Er hat diesen
Entstehungsprozess selber vortrefflich geschildert. Es
ist keineswegs notwendig, dass sich der System-
scho? pfer bei jedem Gedanken des Zusammenhanges
mit der Grundidee bewusst ist; fu? r diesen Zusammen-
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hang muss das Unbewusste garantieren. Notwendig
ist nur, dass alle Gedanken in der Art von Einfa? llen
kommen. Die einzelnen Gedanken eines grossen
Systems bilden sich ganz analog wie die Zellgruppen
in einem werdenden Organismus: vo? llig spontan; es
braucht nach dem ersten Anstoss zur Zellteilung
beim Organismus und nach dem Lebendigwerden
der Grundidee beim Werk kein a? usserer Einfluss mehr
hinzukommen. Er darf beim Werk gar nicht mehr
hinzukommen, soll dessen Einheitlichkeit nicht ge-
fa? hrdet werden. Es ist natu? rlich mo? glich, dass jemand
auf organischem Wege zu a? hnlichen oder gleichen
Gedanken wie ein anderer kommt, aber es wider-
spricht dem Begriffe der organischen Entstehung,
dass jemand seinem Werke fremde Gedanken ein-
verleibt oder auch eigene Gedanken am unrechten
Ort verwendet. Doch kann dies in ganz unauffa? lliger
Weise geschehen. Ich komme hiermit zur zweiten
Art der Werkbildung, der mechanischen.
Wenn ich sage mechanisch, so meine ich da-
mit nicht bloss a? usserlich zusammengetan. Es gibt
Maschinen, deren Teile besser ineinanderpassen
als die so manches Organismus. Es gibt Maschinen,
die viel besser funktionieren als mancher Orga-
nismus. Aus der Art, wie ein Werk gefu? gt ist,
kann man noch keinen Schluss ziehen auf seine Ent-
stehungsart und in weiterer Folge auf seinen Wahr-
heitsgehalt. Aphorismen ko? nnen zusammen ein System
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bilden; ein wohlgegliedertes und -gefu? gtes Ganzes
kann trotz alledem blosses Stu? ckwerk sein.
Der Unterschied zwischen organischen und
mechanischen Werken ist von der gro? ssten Wichtig-
keit bei der Beurteilung von Geistesprodukten. Er
ist aber sehr schwer zu machen, sowohl fu? r den
Scho? pfer des Werkes selber als fu? r die Aufnehmenden.
Auch das mechanische Werk entsteht na? mlich, wie
ich gleich na? her ausfu? hren werde, ganz von selbst,
wie das organische, nur nach anderen Prinzipien,
und macht daher auf seinen Scho? pfer den Eindruck
des Gewordenen. Und weil in ihm, eben seiner
automatischen Entstehung wegen, alles klappt, ist
der Aufnehmende geneigt, es fu? r einen Organismus
zu halten.
Das organische Werk erla? utert man sich natu? r-
lich am besten durch den Hinblick auf die Organismen,
das mechanische aber durch eine Betrachtung des
Traumlebens. In unseren Tra? umen ist eine ganz
merkwu? rdige Kraft ta? tig, eine scho? pferische Kraft,
wie man ziemlich allgemein behauptet, angeblich
dieselbe Kraft, welche den produktiven Menschen
zu seinen Leistungen befa? higt. Davon ist aber keine
Rede. Die Genialita? t des Tra? umers und die Traum-
haftigkeit des Schaffens sind eine leicht zu wider-
legende Unwahrheit. Das Wesen des Traumes, wie
man es am besten an den bizarren Tra? umen
demonstrieren kann, besteht in folgendem: Mehrere
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Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen, die zufa? llig
zusammentreffen oder alle in Beziehung zu einer
leitenden Idee stehen, passen sich aneinander an
and bilden ein sinnvolles -- wenn auch mitunter
anscheinend sinnloses -- Ganzes. Alles, was man
von den Tra? umen aussagen kann, dass sie z. B.
Gefu? hlsregungen, eine Idee zum Ausdruck bringen,
dass sie ein nachtra? glicher, vollsta? ndiger Ablauf des
Tagseelenlebens sind, charakterisiert sie nicht so
wie jene Fa? higkeit, aus ganz verschiedenartigen und
unzusammenha? ngenden Vorstellungen eine ver-
blu? ffende, gefa? llige, witzige oder doch ertra? gliche
Einheit herzustellen. Was von einzelnen Vorstellungen
gilt, das gilt auch von ganzen Situationen. Kommen
aus irgendwelchem Grunde zwei Situationen im
Traume zusammen, so durchdringen sie einander,
da und dort fa? llt etwas weg, was der Vereinigung
im Wege steht; wo 's not tut, kommt ein Hilfsglied
zur Verwendung, kurz, mit einem Raffinement,
welches man oft anstaunen und bela? cheln zu gleicher
Zeit muss, werden die zwei Situationen ausgeglichen;
a? hnlich etwa, wie sich jemand mit seinen Hausrat an
eine neue Wohnung anpasst. Freud, welcher diese
Vorga? nge in den Tra? umen zuerst untersuchte, sprach
von Kompromissbildungen. Ich habe, was auf dasselbe
hinauskommt, von einer Verbindung der Vorstellungen
nach dem Oesetz des meisten Sinnes gesprochen, weil
das im Traum entstehende seelische Neugebilde von
S w o b o d a, Otto Weiningers Tod. 2
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der Art ist, dass die dabei verwendeten Bestandteile
mo? glichst viel von ihrem Sinn behalten.
Es gibt nun eine Art des Produzierens, welche
mit den eben geschilderten Tra? umen im Wesen
vollkommen u? bereinstimmt. Zwei Gedanken, die
von Haus aus gar nicht verwandt sind, die -- wie
man sagen ko? nnte -- einen ganz verschiedenen
Familienursprung haben, kommen zufa? lligzusammen;
mit dem einen Gedanken tra? gt man sich z. B. gerade
und mit dem andern wird man durch Lektu? re oder
Gespra? ch bekannt. Wenn diese zwei Gedanken nun
in ihrem A? ussern sehr a? hnlich sind, so werden sie
sich, ohne unser Zutun, leicht miteinander verbinden.
Der eine Gedanke wird auf den andern ? angewendet",
wie auch die Bezeichnung lautet; von der ? nahelie-
genden Anwendung" ist oft die Rede. Auf diese Weise
kommen sehr viele brillante, gefa? llige, geistreiche,
witzige Neugebilde zustande, denen aber allsamt nicht
mehr Erkenntniswert zukommt als unseren Tra? umen.
Die Geschicklichkeit, mit der die einzelnen Bestand-
teile einer solchen Kompromisswahrheit zusammen-
gesetzt sind, ta? uscht ganz daru? ber hinweg, dass man
es mit keiner urspru? nglichen Einheit zu tun hat.
Was durch mechanische Verbindung entsteht, ist
in der Regel nicht mehr als ein Witz. Unter Witz ist
da natu? rlich nicht bloss die launige Rede zu verstehen.
Es gibt Witze bis in die ho? chsten Regionen des
menschlichen Denkens. Dickleibige philosophische
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Werke sind manchmal auf einen einzigen Witz auf-
gebaut, d. h. auf die a? ussere A? hnlichkeit zweier wesens-
fremder Tatsachen. Die Entscheidung, ob man es mit
einem Witz oder einer Erkenntnis zu tun habe, ist,
wie schon fru? her erwa? hnt, nicht leicht. Unter anderem
kann man nach der Wirkung schliessen: Der Witz ver-
blu? fft, der Witz entwaffnet, bringt den Gegner in Ver-
legenheit, unter Umsta? nden reizt er auf: das alles tut
eine Erkenntnis nicht.
Der Unterschied zwischen Witz und Erkenntnis
ist also vor allem ein genetischer: der Witz entsteht
durch a? usserliche Zusammenfu? gung a? usserlich a? hn-
licher Tatbesta? nde; er entsteht so wie alle anorga-
nischen Neugebilde. Zur Erkenntnis geho? rt u? berhaupt
nur eine Tatsache und das erkennende Subjekt; aus
dieser einen Tatsache entsteht im Erkennenden inner-
halb einer bestimmten Frist ganz von selber die Er-
kenntnis. Auch dies ist ein wesentlicher Unterschied
zwischen Witz und Erkenntnis: der Witz kommt
plo? tzlich, die Erkenntnis beno? tigt immer eine Reifezeit.
Eine Folge der verschiedenen Entstehungsart
ist der verschiedene Wert von Witz und Erkenntnis:
Der Witz verra? t das A? ussere der Dinge, die Erkenntnis
offenbart ihr Wesen. Der witzige Kopf entdeckt da
und dort ? wertvolle Beziehungen*, deckt Zusammen-
ha? nge in Hu? lle und Fu? lle auf, aber er bewirkt
damit kaum mehr als eine voru? bergehende Unter-
haltung auf einem Vortragsabend; dauernd bereichert
2*
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fu? hlt man sich eben auch durch den gla? nzendsten
Witz nicht. Eindringlich ist nur die Erkenntnis.
Der Witz oder, wie man auch sagen ko?
