Allein
Weininger
weiss sich
zu helfen.
zu helfen.
Weininger - 1923 - Tod
tszusta?
nde, welche
aus seinen Vorstellungen ku? hne und bestechende
Kombinationen auffu? hrten, verleiteten ihn zum un-
bedingten Glauben an diese Kombinationen. Er
konnte von den Ideen, die ihm als go? ttliche Ein-
gebungen erschienen, wa? hrend sie nur eine Mache
der Da? mone in seinem Herzen waren, nicht mehr
los, er zwang sein Leben in Regeln, fu? r die es
nicht geschaffen war, bis er schliesslich dem Glauben
an sich selber zum Opfer fiel.
Eine Folge der Gemu? tsinteressen ist auch die
stellenweise so gla? nzende Dialektik in ? Geschlecht
und Charakter". Nichts fu? hrt zu einer so deutlichen
Charaktersierung des Stils, als das Verha? ltnis eines
Autors zu seinen eigenen Gedanken. Advokatorische
Beredsamkeit und namentlich Scharfsinn bekundet
immer nur der Interessierte, der, wie es zum In-
teressierten schon geho? rt, Gegner befu? rchtet und
deren Einwendungen im vorhinein beka? mpft. Die
Wahrheit tritt in ganz schlichtem Gewa? nde vor die
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Welt hin. Es bedarf keiner Fingerzeige und Aus-
rufe, damit man sie bemerkt und achtet. Fu? r eine
Wahrheit echauffiert sich ihr Autor nie; sein In-
stinkt sagt ihm, dass sie ihren Weg so sicher nehmen
wird wie ein wohlgeratenes Kind. Anders ist es
bei den auf die angegebene Weise entstehenden
Scheinwahrheiten. Sie sind von vornherein nichts als
tru? gerische Kombinationen, es ist daher nur konse-
quent, wenn man viel Mu? he aufwendet, um sie ins
rechte Licht zu setzen.
Fu? r die Beurteilung von Weiningers Hauptwerk
ist nicht zuletzt dessen Wirkung von Wichtigkeit.
Diese Wirkung la? sst sich eigentlich erst auf Grund
der eben vorgenommenen Unterscheidung zwischen
echten und Scheinwahrheiten verstehen. Scheinwahr-
heiten sind nichts anderes als Gemu? tsa? usserungen,
die demgema? ss auch vor allem auf das Gemu? t des
Lesers, nicht auf seinen Verstand wirken. So stu? rmische
Zustimmung und Ablehnung, wie sie Weiningers An-
sichten fanden, werden einer Einsicht nie zuteil.
Einsichten rufen u? berhaupt nie eine Parteiung
hervor; sie stossen ho? chstens auf zeitweiligen Wider-
stand oder, wie man optimistischer sagen ko? nnte,
sie brauchen eine Inkubationsfrist. Weininger hat
dagegen, mit einem Schlage, die einen entzu? ckt, die
andern empo? rt. Gleichgestimmte haben ihn als
Befreier von schwerlastendem Gemu? tsdruck begru? sst,
Andersgestimmte als Seelensto? refried zuru? ckge-
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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wiesen. Durch eine wirkliche Einsicht werden die
Gemu? ter nicht in Aufruhr gebracht; durch eine
falsche Einsicht wird der Aufruhr einer Seele vielen
Seelen mitgeteilt, so ist der Sachverhalt.
Weiningers Buch ist furchtbar genannt worden.
Auch das ist sehr bezeichnend. Es gibt keine furcht-
baren Wahrheiten. Die Wahrheit wirkt immer be-
lebend, wohltuend. Die Wahrheit, sei 's nun u? ber eine
naturwissenschaftliche Frage oder u? ber den er-
habensten Gegenstand, ist ein Teil der go? ttlichen
Offenbarung, nicht im Sinn irgend einer kirch-
lichen Dogmatik, sondern naturphilosophisch ge-
nommen; es widerspricht dem Begriff der Wahr-
heit, dass sie wie eine furchtbare Enthu? llung wirkt.
Dass viele von Weiningers Behauptungen geradezu
niederdru? ckend wirken, ist zweifellos, aber nur, weil
sie unter der Etikette von Erkenntnissen die Ge-
fu? hle einer zu Tode verzweifelten Seele a? ussern.
Nicht von der Wahrheit kommt die schaurige Ka? lte,
die einem aus manchen Seiten von ? Geschlecht
und Charakter" entgegenweht, sondern von der
Selbstmordstimmung, in der diese Seiten geschrieben
sind und die sich dem Leser unwillku? rlich mitteilt.
Das fehlte noch, dass man die Forschung betreiben
muss unter Zittern und Bangen vor dem, was
herauskommt! Nein, die Forschung ist der fro? h-
lichste Gottesdienst. Und die Erkenntnis, die dabei
zutage kommt, ist unter allen Umsta? nden tro? stlich
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und heilkra? ftig. Und wenn sie es nicht ist, wenn
sie krank und lebensu? berdru? ssig macht, so verra? t
sie dadurch ihre unechte Abkunft.
Man kann den Tadel, welchen ich hier gegen
gewisse Teile von Weiningers Werk erhoben habe,
in ein einziges Wort zusammenfassen: es ist zum Teil
rein perso? nlich. Nach einem richtigen Gedanken-
werk darf man keine Biographie schreiben ko? nnen.
Man soll nicht einmal ahnen ko? nnen, wie dem Ver-
fasser dabei zumute war, geschweige denn zur
Annahme bestimmter Erlebnisse gelangen. Am Werke
des Denkers sollen Zusta? nde den allergeringsten
Anteil haben. Der Denker soll sich hierin vom
Ku? nstler unterscheiden, bei dem die Verwendung des
Perso? nlichen zum Fach geho? rt, dem es ja vor allem
darum zu tun ist, die Welt mit seiner Perso? nlichkeit
bekannt zu machen, der sich aber auch nicht einbildet,
die reine, allgemein gu? ltige Wahrheit zu sagen. Ein
philosophisches Werk soll nicht einmal durch den Ton,
in dem es geschrieben ist, ein Bekenntnis ablegen.
Den Freudenaffekt, das frisch fro? hliche svgrjxa darf
man daraus vernehmen, sonst nichts. Pru? ft man Wei-
ningers Werk auf diese Regel hin, so findet man,
dass es vielfach nur grandiose gelehrte Variationen
entha? lt u? ber Themen, die andere in lyrischen Ge-
dichten, Dramen und Symphoniesa? tzen behandeln.
Ich habe u? ber alle diese Punkte mit Weininger
seinerzeit viel gesprochen. Er konnte es -- aller-
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dings erst spa? ter -- nicht leiden, wenn man den
Inhalt eines Werkes psychologisch erkla? rte, das heisst
aus den Lebensschicksalen seines Verfassers. Nament-
lich an ein Mal erinnere ich mich, wo er sehr heftig
wurde, als ich dieses Verfahren auf Nietzsche an-
wandte. Nun sind ja Erlebnisse eine unbedingte Vor-
aussetzung fu? r geistige Produktion irgendwelcher
Art. Der Gedanke ist der Abschluss des Erlebnisses
und sein Ertrag. Dieser Hergang ist ganz in der
Ordnung. Unstatthaft ist es nur, dass das Erlebnis
eine fremde Gedankengruppe beeinflusst. Wenn
jemand durch ein gewaltiges Elementarunglu? ck zu
Gedanken u? ber das Weltregiment angeregt wird,
so ist das natu? rlich; wenn er aber, etwa infolge
unglu? cklicher Liebe, theologische Spekulationen be-
ginnt, die fu? r Gott ungu? nstig ausfallen, so ist das
verschroben. Ein Werk psychologisch erkla? ren, heisst
ja nicht, ihm jeglichen Wert absprechen, sondern
nur, jenen Faktor aufsuchen und eliminieren, der
mit der Wahrheit absolut nichts zu tun hat.
Es wa? re unbillig, von jedem Denker eine innere
Unabha? ngigkeit zu verlangen, wie sie nur sehr
wenigen gnadenweise zuteil wird. Wenn aber jemand
verlangt, dass man alle seine Anschauungen als un-
bedingte Wahrheit hinnimmt, dann ist man wohl nach-
zuforschen berechtigt, unter welchen Bedingungen
etwa seine ? Wahrheiten" entstanden sind; und man
wird gerade in diesem Fall auch immer Bedingungen
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finden. Bei Werken der Kunst ist die psychologische
Forschung -- wenn sie als wesentlicher Bestandteil
vertieften Kunstgeniessens ausgegeben wird -- aller-
dings unstatthaft; sie ist dort nichts als eine wissen-
schaftlich drapierte besondere Art von Lu? sternheit.
Aber bei einem Denker zeugt es von schlechtem
Gewissen, wenn er sich gegen eine psychologische
Untersuchung verwahrt. In der Tat, wenn beim
Ku? nstler das Erlebnis, etwa durch einen spa? ter publi-
zierten Briefwechsel, offenbar wird, so a? ndert das
an der Wertung des Kunstwerkes nicht das ge-
ringste; dagegen verlieren eines Mannes Gedanken
u? ber die Geschlechtsliebe sehr an Kredit, wenn aus
nachgelassenen Rezepten hervorgeht, wie schlechte
Erfahrungen er im Leben gemacht hat. Unglu? ck
macht manchmal weise; noch o? fter aber beschra? nkt
und ungerecht.
Wie Weininger bei seinen Forschungen oft zu-
wege ging oder vielmehr, wie es in ihm dabei zu-
ging -- denn seine Kontrolle war ganz ausgeschaltet,
viele seiner Erkenntnisse waren einfach Aufsitzer,
Selbstaufsitzer -- dies erhellt am deutlichsten aus
dem Kapitel u? ber das Judentum. Weininger entdeckt
eines Tages, dass die Juden insgesamt, M und W,
eine Reihe von unscho? nen und unangenehmen Eigen-
schaften haben, wie er sie urspru? nglich an W kon-
statiert hat. Das Na? chstliegende wa? re nun wohl ge-
wesen, an seiner Charakterisierung von W irre zu
S wob oda, Otto Weiningers Tod. 3
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? werden. Was sind das fu? r wesentliche Merkmale
von W, die man auch, und genau so, bei M einer
andern Nation vorfindet?
Allein Weininger weiss sich
zu helfen. W ist ihm ja schon la? ngst nicht das
unter uns wandelnde weibliche Wesen, sondern ein
aus den Tatsachen herauspra? parierter Begriff; W
ist nicht das Weib, sondern das Weibliche. Er geht
nun noch einen Schritt weiter: W ist auch nicht
das Weibliche, sondern eine Idee im Sinne Piatos;
darum kann auch M, kann auch ein ganzes Volk
so wie W geartet sein; es ist dann eben die sinn-
liche Erscheinung der platonischen Idee. Die Juden
sind nicht die einzigen, auch die Engla? nder haben
an jener Idee Teil! Man sieht hier wieder, wie ver-
derblich Weininger seine Kenntnisse wurden. Ein
anderer an seiner Stelle ha? tte konstatiert, dass da
etwas nicht stimmt; und er ha? tte weiter nachgeforscht
und seine Gedanken den Tatsachen besser angepasst.
Allein Weininger weiss sich viel schneller Rat. Im
Handumdrehen hat er das Allerunvereinbarste zu
einem System verbunden, dessen streng logischer
Aufbau und dessen a? usserliche Gefa? lligkeit geradezu
bestechend wirken. An der Geschicklichkeit, mit der
Weininger seine Wahrheiten oft zusammensetzt, kann
man auch dann seine Freude haben, wenn man
ihren vollsta? ndigen Unwert durchschaut. Ja, gerade
erst dann. Wie u? berhaupt am ganzen Buch nur der-
jenige das richtige Vergnu? gen hat, dem es nicht
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gefa? hrlich ist. Vieles ist geradezu ko? stlich zu ge-
niessen, wenn man sichs nicht in dem feierlichen
Offenbarungstone liest, in dem es vorgetragen wird.
Was fu? r eine feine Unterhaltung haben wir nicht
oft gehabt mit solchen spielerischen, natu? rlich gar
nicht ernst gemeinten Kombinationen, mit unserem
Gedankenkaleidoskop! Weiningers Fehler und Un-
glu? ck war nur, dass er solche Gebilde spa? terhin
ernst, furchtbar ernst nahm. So erschienen ihm auch
seine A? usserungen u? ber das Judentum als letzte,
tiefste Wahrheit. Die Wahrheit war aber natu? rlich
nur die, dass er die Juden ebensowenig ausstehen
konnte wie die Frauen; das Judentum ebensowenig
wie W, wu? rde Weininger verlangen.
Weininger hasste das Judentum; was er darunter
verstand oder wenigstens verstehen wollte, war aber
nicht ein Nationalcharakter, sondern wieder eine
platonische Idee, an welcher demgema? ss auch Arier
teilhaben konnten -- so half er sich u? ber die fatale
Beobachtung hinweg, dass auch Arier ha? ufig die
Eigenschaften aufweisen, die ihm an den Juden un-
angenehm waren. Sein Hass suchte nun nach Nah-
rung. Er fand die Juden mit W a? hnlich, weil er ein
Interesse daran hatte, sie ebenso schlecht wie W
zu finden. Die Analogie mit W enthob ihn u? ber-
dies der Mu? he, die Eigenschaften der Juden einer
besonderen Wu? rdigung und Erkla? rung zu unter-
ziehen. Durch U? bertragung des Begriffs W auf das
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Judentum war dieses schon miterkla? rt. Man muss
u? ber die Leichtfertigkeit dieses Verfahrens staunen,
im Hinblick auf Weiningers u? bergrosses Interesse an
seinen Gedanken ist aber gar nichts begreiflicher.
Der Hass, die Liebe, der Ehrgeiz, kurz jedes
Gefu? hl, das einem unbefriedigten Triebe entspringt,
sucht nach Nahrung. Wenn es nun keine natur-
gema? sse Nahrung findet, entsteht ein Zustand ganz
a? hnlich wie beim verschmachtenden Wu? stenreisenden.
Diesem gaukelt der Durst die lieblichsten Bilder von
Oasen vor; die anfangs ganz normale Vorstellung
wird durch die wachsende Begierde zu immer gro? sserer
Lebhaftigkeit erhitzt, bis sie schliesslich die Deut-
lichkeit der Realita? t selber hat: Die Vorstellung wird
zur Halluzination. Einen wesensgleichen Vorgang
kann man nun auch beobachten, wenn lebhafte
seelische Bedu? rfnisse keine Befriedigung finden.
Seelische Bedu? rfnisse werden durch Gedanken be-
friedigt, und zwar durch echte Gedanken in dem
fru? her abgegrenzten Sinne. Wenn aber das Bedu? rfnis
sehr gross ist, dann wird die Beschaffenheit der
Gedanken, ihre Wahrhaftigkeit und Nahrhaftigkeit,
immer gleichgu? ltiger. Ein Mensch mit lebhaften Ge-
mu? tsbedu? rfnissen nimmt alle seine Gedanken fu? r
wahr an, ebenso wie der du? rstende Wu? stenreisende
seine Vorstellungen fu? r real annimmt. Es gibt auch
Oedankenhalluzinationen. Wer im seelischen Gleich-
gewicht ist, der weiss wohl zu unterscheiden zwischen
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echten Gedanken und flu? chtigen, wertlosen Vor-
stellungskombinationen. Ungestillte Begier jedoch,
edler und unedler Art, fu? hrt alsbald zu Selbst-
ta? uschung.
Selbstta? uschung ist danach eine sehr wohlta? tige
Einrichtung der Natur. Sie stellt ein ku? nstliches
inneres Gleichgewicht her und hilft auf diese Weise
u? ber einen sonst unertra? glichen Zustand hinweg.
Sie ho? rt auch wieder von selber auf, wenn sie nicht
mehr notwendig ist. Wa? re Weininger die ihn be-
dru? ckenden Gefu? hle eines Tages auf normalem Wege
los geworden, so ha? tte er auf einmal den ganzen
Trug, in den er sich eingesponnen, durchschaut.
Mit der Freiheit des Gemu? tes kehrt die volle Herr-
schaft u? ber die Gedanken von selber wieder.
Da die Selbstta? uschung einen biologischen Wert
hat, ist jemand, der darin befangen ist, nur sehr
schwer zu bekehren. Von der Bekehrung hat er
ja gar nichts, wenigstens nicht in dem Augenblick,
da man ihn bekehren will, von der Ta? uschung
hingegen hat er nicht mehr und nicht weniger als
das Leben. Eine grobe Selbstta? uschung ist unter
Umsta? nden die einzige Mo? glichkeit, am Leben zu
bleiben. Vergebliche Mu? he ist es, jemandem in
solchem Zustande mit Gru? nden beikommen zu wollen.
Seine Meinung wird ja auch nicht von Gru? nden ge-
halten, sondern von Gefu? hlen, die sich wohl hu? ten,
offen hervorzutreten. Diskussionen sind unter solchen
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Umsta? nden ebenso resultatlos wie die Beschiessung
einer fingierten Batterie. Ich habe das erlebt. Als
Aussenstehender hatte ich es natu? rlich sehr leicht,
den Sachverhalt zu durchschauen; man ko? nnte be-
schra? nkt sein und wu? rde doch noch viel klarer sehen
als ein Befangener. Aber ich habe mich vergeblich
bemu? ht, Weininger von der vo? lligen Unhaltbarkeit
vieler Partien, namentlich auch des Kapitels u? ber
das Judentum, zu u? berzeugen. Es war ihm nicht
ein Satz abzuringen. Buchsta? blich bis zum letzten
Augenblick vor der Drucklegung wollte ich ihn zur
Zuru? cknahme dieses und jenes Teiles bewegen; er
ho? rte mich ruhig an, schien ganz u? berzeugt von
meinen Argumenten, unter denen auch die psycho-
logische Analyse nicht fehlte, aber er a? nderte nicht
das Geringste. Er hing eben gerade an den un-
haltbarsten Einfa? llen mit seinem Herzen. Sie hatten
ihm einen ungeheuren Dienst geleistet, den er ihnen
nicht vergass. Ich glaube, es war wirklich die Dank-
barkeit, welche ihn so fest an seine Eingebungen
band. Aber er verwechselte den Wert, welchen sie
fu? r ihn hatten, mit ihrem objektiven Wert. Der
Dankbare neigt immer zur U? berscha? tzung. --
Die bisherige Untersuchung u? ber die Entstehung
von ? Geschlecht und Charakter" hat folgendes er-
geben: Das Werk beginnt mit einem naturwissen-
schaftlichen Teil und geht dann in einen philo-
sophischen u? ber, die beide an echten Erkenntnissen,
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an genial erschauten Wahrheiten, reich sind. Daneben
aber findet man, schon in diesen ersten Teilen, viele,
an ihrem pra? tentio? sen Auftreten leicht erkenntliche
falsche Meinungen, welche auf die eben zuvor ge-
schilderte Art zustande gekommen sind.
Zuerst forschte und dachte Weininger ganz vor-
urteilslos; bis sich auf einmal eine bestimmte Mei-
nung u? ber M und W in ihm festsetzte; in ihm
durch einen Affekt fixiert wurde, in der Sprache
der neueren Seelenforschung. Er hatte auf einmal
ein Interesse, natu? rlich kein intellektuelles, dass M
und W gerade so und nicht anders seien. Und nun
zog er, ganz einseitig, nur mehr das an sich, was
seine feste Meinung na? hrte. So kam es zu dieser
fortgesetzten unseligen Aufteilung aller Gu? ter des
Himmels und der Erde unter M und W.
Auch so ko?
aus seinen Vorstellungen ku? hne und bestechende
Kombinationen auffu? hrten, verleiteten ihn zum un-
bedingten Glauben an diese Kombinationen. Er
konnte von den Ideen, die ihm als go? ttliche Ein-
gebungen erschienen, wa? hrend sie nur eine Mache
der Da? mone in seinem Herzen waren, nicht mehr
los, er zwang sein Leben in Regeln, fu? r die es
nicht geschaffen war, bis er schliesslich dem Glauben
an sich selber zum Opfer fiel.
Eine Folge der Gemu? tsinteressen ist auch die
stellenweise so gla? nzende Dialektik in ? Geschlecht
und Charakter". Nichts fu? hrt zu einer so deutlichen
Charaktersierung des Stils, als das Verha? ltnis eines
Autors zu seinen eigenen Gedanken. Advokatorische
Beredsamkeit und namentlich Scharfsinn bekundet
immer nur der Interessierte, der, wie es zum In-
teressierten schon geho? rt, Gegner befu? rchtet und
deren Einwendungen im vorhinein beka? mpft. Die
Wahrheit tritt in ganz schlichtem Gewa? nde vor die
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Welt hin. Es bedarf keiner Fingerzeige und Aus-
rufe, damit man sie bemerkt und achtet. Fu? r eine
Wahrheit echauffiert sich ihr Autor nie; sein In-
stinkt sagt ihm, dass sie ihren Weg so sicher nehmen
wird wie ein wohlgeratenes Kind. Anders ist es
bei den auf die angegebene Weise entstehenden
Scheinwahrheiten. Sie sind von vornherein nichts als
tru? gerische Kombinationen, es ist daher nur konse-
quent, wenn man viel Mu? he aufwendet, um sie ins
rechte Licht zu setzen.
Fu? r die Beurteilung von Weiningers Hauptwerk
ist nicht zuletzt dessen Wirkung von Wichtigkeit.
Diese Wirkung la? sst sich eigentlich erst auf Grund
der eben vorgenommenen Unterscheidung zwischen
echten und Scheinwahrheiten verstehen. Scheinwahr-
heiten sind nichts anderes als Gemu? tsa? usserungen,
die demgema? ss auch vor allem auf das Gemu? t des
Lesers, nicht auf seinen Verstand wirken. So stu? rmische
Zustimmung und Ablehnung, wie sie Weiningers An-
sichten fanden, werden einer Einsicht nie zuteil.
Einsichten rufen u? berhaupt nie eine Parteiung
hervor; sie stossen ho? chstens auf zeitweiligen Wider-
stand oder, wie man optimistischer sagen ko? nnte,
sie brauchen eine Inkubationsfrist. Weininger hat
dagegen, mit einem Schlage, die einen entzu? ckt, die
andern empo? rt. Gleichgestimmte haben ihn als
Befreier von schwerlastendem Gemu? tsdruck begru? sst,
Andersgestimmte als Seelensto? refried zuru? ckge-
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wiesen. Durch eine wirkliche Einsicht werden die
Gemu? ter nicht in Aufruhr gebracht; durch eine
falsche Einsicht wird der Aufruhr einer Seele vielen
Seelen mitgeteilt, so ist der Sachverhalt.
Weiningers Buch ist furchtbar genannt worden.
Auch das ist sehr bezeichnend. Es gibt keine furcht-
baren Wahrheiten. Die Wahrheit wirkt immer be-
lebend, wohltuend. Die Wahrheit, sei 's nun u? ber eine
naturwissenschaftliche Frage oder u? ber den er-
habensten Gegenstand, ist ein Teil der go? ttlichen
Offenbarung, nicht im Sinn irgend einer kirch-
lichen Dogmatik, sondern naturphilosophisch ge-
nommen; es widerspricht dem Begriff der Wahr-
heit, dass sie wie eine furchtbare Enthu? llung wirkt.
Dass viele von Weiningers Behauptungen geradezu
niederdru? ckend wirken, ist zweifellos, aber nur, weil
sie unter der Etikette von Erkenntnissen die Ge-
fu? hle einer zu Tode verzweifelten Seele a? ussern.
Nicht von der Wahrheit kommt die schaurige Ka? lte,
die einem aus manchen Seiten von ? Geschlecht
und Charakter" entgegenweht, sondern von der
Selbstmordstimmung, in der diese Seiten geschrieben
sind und die sich dem Leser unwillku? rlich mitteilt.
Das fehlte noch, dass man die Forschung betreiben
muss unter Zittern und Bangen vor dem, was
herauskommt! Nein, die Forschung ist der fro? h-
lichste Gottesdienst. Und die Erkenntnis, die dabei
zutage kommt, ist unter allen Umsta? nden tro? stlich
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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und heilkra? ftig. Und wenn sie es nicht ist, wenn
sie krank und lebensu? berdru? ssig macht, so verra? t
sie dadurch ihre unechte Abkunft.
Man kann den Tadel, welchen ich hier gegen
gewisse Teile von Weiningers Werk erhoben habe,
in ein einziges Wort zusammenfassen: es ist zum Teil
rein perso? nlich. Nach einem richtigen Gedanken-
werk darf man keine Biographie schreiben ko? nnen.
Man soll nicht einmal ahnen ko? nnen, wie dem Ver-
fasser dabei zumute war, geschweige denn zur
Annahme bestimmter Erlebnisse gelangen. Am Werke
des Denkers sollen Zusta? nde den allergeringsten
Anteil haben. Der Denker soll sich hierin vom
Ku? nstler unterscheiden, bei dem die Verwendung des
Perso? nlichen zum Fach geho? rt, dem es ja vor allem
darum zu tun ist, die Welt mit seiner Perso? nlichkeit
bekannt zu machen, der sich aber auch nicht einbildet,
die reine, allgemein gu? ltige Wahrheit zu sagen. Ein
philosophisches Werk soll nicht einmal durch den Ton,
in dem es geschrieben ist, ein Bekenntnis ablegen.
Den Freudenaffekt, das frisch fro? hliche svgrjxa darf
man daraus vernehmen, sonst nichts. Pru? ft man Wei-
ningers Werk auf diese Regel hin, so findet man,
dass es vielfach nur grandiose gelehrte Variationen
entha? lt u? ber Themen, die andere in lyrischen Ge-
dichten, Dramen und Symphoniesa? tzen behandeln.
Ich habe u? ber alle diese Punkte mit Weininger
seinerzeit viel gesprochen. Er konnte es -- aller-
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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dings erst spa? ter -- nicht leiden, wenn man den
Inhalt eines Werkes psychologisch erkla? rte, das heisst
aus den Lebensschicksalen seines Verfassers. Nament-
lich an ein Mal erinnere ich mich, wo er sehr heftig
wurde, als ich dieses Verfahren auf Nietzsche an-
wandte. Nun sind ja Erlebnisse eine unbedingte Vor-
aussetzung fu? r geistige Produktion irgendwelcher
Art. Der Gedanke ist der Abschluss des Erlebnisses
und sein Ertrag. Dieser Hergang ist ganz in der
Ordnung. Unstatthaft ist es nur, dass das Erlebnis
eine fremde Gedankengruppe beeinflusst. Wenn
jemand durch ein gewaltiges Elementarunglu? ck zu
Gedanken u? ber das Weltregiment angeregt wird,
so ist das natu? rlich; wenn er aber, etwa infolge
unglu? cklicher Liebe, theologische Spekulationen be-
ginnt, die fu? r Gott ungu? nstig ausfallen, so ist das
verschroben. Ein Werk psychologisch erkla? ren, heisst
ja nicht, ihm jeglichen Wert absprechen, sondern
nur, jenen Faktor aufsuchen und eliminieren, der
mit der Wahrheit absolut nichts zu tun hat.
Es wa? re unbillig, von jedem Denker eine innere
Unabha? ngigkeit zu verlangen, wie sie nur sehr
wenigen gnadenweise zuteil wird. Wenn aber jemand
verlangt, dass man alle seine Anschauungen als un-
bedingte Wahrheit hinnimmt, dann ist man wohl nach-
zuforschen berechtigt, unter welchen Bedingungen
etwa seine ? Wahrheiten" entstanden sind; und man
wird gerade in diesem Fall auch immer Bedingungen
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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finden. Bei Werken der Kunst ist die psychologische
Forschung -- wenn sie als wesentlicher Bestandteil
vertieften Kunstgeniessens ausgegeben wird -- aller-
dings unstatthaft; sie ist dort nichts als eine wissen-
schaftlich drapierte besondere Art von Lu? sternheit.
Aber bei einem Denker zeugt es von schlechtem
Gewissen, wenn er sich gegen eine psychologische
Untersuchung verwahrt. In der Tat, wenn beim
Ku? nstler das Erlebnis, etwa durch einen spa? ter publi-
zierten Briefwechsel, offenbar wird, so a? ndert das
an der Wertung des Kunstwerkes nicht das ge-
ringste; dagegen verlieren eines Mannes Gedanken
u? ber die Geschlechtsliebe sehr an Kredit, wenn aus
nachgelassenen Rezepten hervorgeht, wie schlechte
Erfahrungen er im Leben gemacht hat. Unglu? ck
macht manchmal weise; noch o? fter aber beschra? nkt
und ungerecht.
Wie Weininger bei seinen Forschungen oft zu-
wege ging oder vielmehr, wie es in ihm dabei zu-
ging -- denn seine Kontrolle war ganz ausgeschaltet,
viele seiner Erkenntnisse waren einfach Aufsitzer,
Selbstaufsitzer -- dies erhellt am deutlichsten aus
dem Kapitel u? ber das Judentum. Weininger entdeckt
eines Tages, dass die Juden insgesamt, M und W,
eine Reihe von unscho? nen und unangenehmen Eigen-
schaften haben, wie er sie urspru? nglich an W kon-
statiert hat. Das Na? chstliegende wa? re nun wohl ge-
wesen, an seiner Charakterisierung von W irre zu
S wob oda, Otto Weiningers Tod. 3
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? werden. Was sind das fu? r wesentliche Merkmale
von W, die man auch, und genau so, bei M einer
andern Nation vorfindet?
Allein Weininger weiss sich
zu helfen. W ist ihm ja schon la? ngst nicht das
unter uns wandelnde weibliche Wesen, sondern ein
aus den Tatsachen herauspra? parierter Begriff; W
ist nicht das Weib, sondern das Weibliche. Er geht
nun noch einen Schritt weiter: W ist auch nicht
das Weibliche, sondern eine Idee im Sinne Piatos;
darum kann auch M, kann auch ein ganzes Volk
so wie W geartet sein; es ist dann eben die sinn-
liche Erscheinung der platonischen Idee. Die Juden
sind nicht die einzigen, auch die Engla? nder haben
an jener Idee Teil! Man sieht hier wieder, wie ver-
derblich Weininger seine Kenntnisse wurden. Ein
anderer an seiner Stelle ha? tte konstatiert, dass da
etwas nicht stimmt; und er ha? tte weiter nachgeforscht
und seine Gedanken den Tatsachen besser angepasst.
Allein Weininger weiss sich viel schneller Rat. Im
Handumdrehen hat er das Allerunvereinbarste zu
einem System verbunden, dessen streng logischer
Aufbau und dessen a? usserliche Gefa? lligkeit geradezu
bestechend wirken. An der Geschicklichkeit, mit der
Weininger seine Wahrheiten oft zusammensetzt, kann
man auch dann seine Freude haben, wenn man
ihren vollsta? ndigen Unwert durchschaut. Ja, gerade
erst dann. Wie u? berhaupt am ganzen Buch nur der-
jenige das richtige Vergnu? gen hat, dem es nicht
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gefa? hrlich ist. Vieles ist geradezu ko? stlich zu ge-
niessen, wenn man sichs nicht in dem feierlichen
Offenbarungstone liest, in dem es vorgetragen wird.
Was fu? r eine feine Unterhaltung haben wir nicht
oft gehabt mit solchen spielerischen, natu? rlich gar
nicht ernst gemeinten Kombinationen, mit unserem
Gedankenkaleidoskop! Weiningers Fehler und Un-
glu? ck war nur, dass er solche Gebilde spa? terhin
ernst, furchtbar ernst nahm. So erschienen ihm auch
seine A? usserungen u? ber das Judentum als letzte,
tiefste Wahrheit. Die Wahrheit war aber natu? rlich
nur die, dass er die Juden ebensowenig ausstehen
konnte wie die Frauen; das Judentum ebensowenig
wie W, wu? rde Weininger verlangen.
Weininger hasste das Judentum; was er darunter
verstand oder wenigstens verstehen wollte, war aber
nicht ein Nationalcharakter, sondern wieder eine
platonische Idee, an welcher demgema? ss auch Arier
teilhaben konnten -- so half er sich u? ber die fatale
Beobachtung hinweg, dass auch Arier ha? ufig die
Eigenschaften aufweisen, die ihm an den Juden un-
angenehm waren. Sein Hass suchte nun nach Nah-
rung. Er fand die Juden mit W a? hnlich, weil er ein
Interesse daran hatte, sie ebenso schlecht wie W
zu finden. Die Analogie mit W enthob ihn u? ber-
dies der Mu? he, die Eigenschaften der Juden einer
besonderen Wu? rdigung und Erkla? rung zu unter-
ziehen. Durch U? bertragung des Begriffs W auf das
3*
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Judentum war dieses schon miterkla? rt. Man muss
u? ber die Leichtfertigkeit dieses Verfahrens staunen,
im Hinblick auf Weiningers u? bergrosses Interesse an
seinen Gedanken ist aber gar nichts begreiflicher.
Der Hass, die Liebe, der Ehrgeiz, kurz jedes
Gefu? hl, das einem unbefriedigten Triebe entspringt,
sucht nach Nahrung. Wenn es nun keine natur-
gema? sse Nahrung findet, entsteht ein Zustand ganz
a? hnlich wie beim verschmachtenden Wu? stenreisenden.
Diesem gaukelt der Durst die lieblichsten Bilder von
Oasen vor; die anfangs ganz normale Vorstellung
wird durch die wachsende Begierde zu immer gro? sserer
Lebhaftigkeit erhitzt, bis sie schliesslich die Deut-
lichkeit der Realita? t selber hat: Die Vorstellung wird
zur Halluzination. Einen wesensgleichen Vorgang
kann man nun auch beobachten, wenn lebhafte
seelische Bedu? rfnisse keine Befriedigung finden.
Seelische Bedu? rfnisse werden durch Gedanken be-
friedigt, und zwar durch echte Gedanken in dem
fru? her abgegrenzten Sinne. Wenn aber das Bedu? rfnis
sehr gross ist, dann wird die Beschaffenheit der
Gedanken, ihre Wahrhaftigkeit und Nahrhaftigkeit,
immer gleichgu? ltiger. Ein Mensch mit lebhaften Ge-
mu? tsbedu? rfnissen nimmt alle seine Gedanken fu? r
wahr an, ebenso wie der du? rstende Wu? stenreisende
seine Vorstellungen fu? r real annimmt. Es gibt auch
Oedankenhalluzinationen. Wer im seelischen Gleich-
gewicht ist, der weiss wohl zu unterscheiden zwischen
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echten Gedanken und flu? chtigen, wertlosen Vor-
stellungskombinationen. Ungestillte Begier jedoch,
edler und unedler Art, fu? hrt alsbald zu Selbst-
ta? uschung.
Selbstta? uschung ist danach eine sehr wohlta? tige
Einrichtung der Natur. Sie stellt ein ku? nstliches
inneres Gleichgewicht her und hilft auf diese Weise
u? ber einen sonst unertra? glichen Zustand hinweg.
Sie ho? rt auch wieder von selber auf, wenn sie nicht
mehr notwendig ist. Wa? re Weininger die ihn be-
dru? ckenden Gefu? hle eines Tages auf normalem Wege
los geworden, so ha? tte er auf einmal den ganzen
Trug, in den er sich eingesponnen, durchschaut.
Mit der Freiheit des Gemu? tes kehrt die volle Herr-
schaft u? ber die Gedanken von selber wieder.
Da die Selbstta? uschung einen biologischen Wert
hat, ist jemand, der darin befangen ist, nur sehr
schwer zu bekehren. Von der Bekehrung hat er
ja gar nichts, wenigstens nicht in dem Augenblick,
da man ihn bekehren will, von der Ta? uschung
hingegen hat er nicht mehr und nicht weniger als
das Leben. Eine grobe Selbstta? uschung ist unter
Umsta? nden die einzige Mo? glichkeit, am Leben zu
bleiben. Vergebliche Mu? he ist es, jemandem in
solchem Zustande mit Gru? nden beikommen zu wollen.
Seine Meinung wird ja auch nicht von Gru? nden ge-
halten, sondern von Gefu? hlen, die sich wohl hu? ten,
offen hervorzutreten. Diskussionen sind unter solchen
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Umsta? nden ebenso resultatlos wie die Beschiessung
einer fingierten Batterie. Ich habe das erlebt. Als
Aussenstehender hatte ich es natu? rlich sehr leicht,
den Sachverhalt zu durchschauen; man ko? nnte be-
schra? nkt sein und wu? rde doch noch viel klarer sehen
als ein Befangener. Aber ich habe mich vergeblich
bemu? ht, Weininger von der vo? lligen Unhaltbarkeit
vieler Partien, namentlich auch des Kapitels u? ber
das Judentum, zu u? berzeugen. Es war ihm nicht
ein Satz abzuringen. Buchsta? blich bis zum letzten
Augenblick vor der Drucklegung wollte ich ihn zur
Zuru? cknahme dieses und jenes Teiles bewegen; er
ho? rte mich ruhig an, schien ganz u? berzeugt von
meinen Argumenten, unter denen auch die psycho-
logische Analyse nicht fehlte, aber er a? nderte nicht
das Geringste. Er hing eben gerade an den un-
haltbarsten Einfa? llen mit seinem Herzen. Sie hatten
ihm einen ungeheuren Dienst geleistet, den er ihnen
nicht vergass. Ich glaube, es war wirklich die Dank-
barkeit, welche ihn so fest an seine Eingebungen
band. Aber er verwechselte den Wert, welchen sie
fu? r ihn hatten, mit ihrem objektiven Wert. Der
Dankbare neigt immer zur U? berscha? tzung. --
Die bisherige Untersuchung u? ber die Entstehung
von ? Geschlecht und Charakter" hat folgendes er-
geben: Das Werk beginnt mit einem naturwissen-
schaftlichen Teil und geht dann in einen philo-
sophischen u? ber, die beide an echten Erkenntnissen,
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an genial erschauten Wahrheiten, reich sind. Daneben
aber findet man, schon in diesen ersten Teilen, viele,
an ihrem pra? tentio? sen Auftreten leicht erkenntliche
falsche Meinungen, welche auf die eben zuvor ge-
schilderte Art zustande gekommen sind.
Zuerst forschte und dachte Weininger ganz vor-
urteilslos; bis sich auf einmal eine bestimmte Mei-
nung u? ber M und W in ihm festsetzte; in ihm
durch einen Affekt fixiert wurde, in der Sprache
der neueren Seelenforschung. Er hatte auf einmal
ein Interesse, natu? rlich kein intellektuelles, dass M
und W gerade so und nicht anders seien. Und nun
zog er, ganz einseitig, nur mehr das an sich, was
seine feste Meinung na? hrte. So kam es zu dieser
fortgesetzten unseligen Aufteilung aller Gu? ter des
Himmels und der Erde unter M und W.
Auch so ko?
