r auf allen
Gebieten
ein.
Weininger - 1923 - Tod
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hathitrust.
org/access_use#pd-us-google
? 93
auch die Frage, ob das Geschlecht, Mann oder
Weib, fu? r die positive oder negative Wertung mass-
gebend sei. Der Konflikt zwischen Geist und Sinn-
lichkeit ist keineswegs auf den Mann beschra? nkt.
Das Weib, welches die Sinnlichkeit misswertet, kopiert
nicht einfach den Mann. Es gibt fortpflanzungs-
bedu? rftige Ma? nner, welche das Geschlechtsleben
genau so bewerten wie die Mu? tter. Es gibt Va? ter,
denen man dasselbe nachru? hmen und nachsagen
kann wie den Mu? ttern. Und es gibt hochbegabte
Frauen -- Frauen, die ihre Begabung nicht dem
ma? nnlichen Einschlag verdanken --, welche die
Sinnlichkeit ebenso werten wie der geniale Mann.
Die Generation kann eben mit Mann oder Weib
abschliessen. Es gibt zwar keine weibliche Genialita? t
-- u? berall, wo Genialita? t ist, findet man Ma? nnliches --,
dafu? r aber eine nur dem Weibe eigentu? mliche per-
so? nliche Vollkommenheit, welche der ma? nnlichen
Genialita? t in jeder Hinsicht analog ist, auch darin,
dass sie mit Interesselosigkeit an der Fortpflan-
zung und Abneigung gegen die Sinnlichkeit ver-
bunden ist.
Ungeachtet dieser grundsa? tzlichen Gleichheit
besteht aber zwischen dem geistigen Mann und der
geistigen Frau ein gewichtiger Unterschied. Bei
der offenkundigen Verschiedenheit des ma? nnlichen
und weiblichen Geschlechtslebens, ist von vorn-
herein zu erwarten, dass sich auch der Niedergang
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
? 94
des Geschlechtslebens in verschiedener Form voll-
ziehen wird. Beim Mann tritt fu? r den Geschlechtstrieb
die Sinnlichkeit ein; das geistige Weib hingegen,
welches keinen Geschlechtstrieb im eigentlichen Sinne
hat, d. h. keine Fortpflanzungsabsicht, ist auch nicht
sinnlich, es na? hert sich wenigstens stark einem un-
geschlechtlichen und unsinnlichen, einem rein
geistigen Wesen. So entstehen jene lebendigen
Zeugen einer besseren Welt, die seit jeher das Ent-
zu? cken des schaffenden Mannes waren. Sie erfu? llen
seine Sehnsucht. Der Mann ringt mehr nach Geistig-
keit als das Weib, aber nur, weil er weiter von ihr
entfernt ist; wie denn u? berhaupt der Mann im Gegen-
satz zum Weibe nichts besitzt, sondern alles erst
erka? mpft oder auch bloss anstrebt. Das Beste an
ihm ist die Sehnsucht und der gute Wille. Gross
und vollkommen ist der Mann nur in seinen Werken,
vermutlich eben wegen des Ungenu? gens an seiner
Person. --
Der Kampf zwischen Geist und Sinnlichkeit
bringt, wie jeder Kampf, eine Menge Ungemach
mit sich. Dieses innere Ungemach ist aber nicht
Krankheit; und deshalb haben die darunter Leidenden
auch gar kein Bestreben geheilt zu werden. Ihr
Bedu? rfnis nach Hilfe wird oft missverstanden; sie
suchen Hilfe im Kampf, nicht Abhilfe gegen den
Kampf. Mit dem Ratschlage nachzugeben ist
nicht jedermann gedient. Gesund, in der u? blichen
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? 95
Bedeutung des Wortes, ko? nnte ja mancher auf diese
Art werden, ob aber auch glu? cklicher? Es gibt nun
einmal Menschen, denen eine Su? nde wider den
Geist schmerzlicher ist als die Kriegsno? te in ihrer
Brust. Behaglicher Friede lockt hervorragende
Menschen nicht. Auch sie kennen das Bedu? rfnis
danach; aber sie haben ho? here Bedu? rfnisse, denen
sie jenes irdische mit ru? cksichtsloser Ha? rte gegen
sich selbst unterordnen.
Es wa? re u? brigens falsch zu glauben, dass der
Asket fu? r seine Anstrengungen nur Leiden erntet.
Sein Beginnen ist nicht so wahnwitzig, als es aus-
sieht. Den Leiden entsprechen Freuden, ja Wonnen,
von denen sich das Weltkind nichts tra? umen la? sst.
Vielleicht sind es nur spa? rliche Augenblicke der
Wonne, aber doch hinreichend, jahrelange Mu? hsal
aufzuwiegen. Fu? r diese Kompensation gelten keine
arithmetischen Grundsa? tze. Der Asket ist der feinste
Lebensku? nstler. Seine Entbehrungen sind klug be-
rechnet. Mit der Liebesseligkeit enthaltsamer Kloster-
bru? der la? sst sich kein Sinnesgenuss vergleichen. Da-
bei wa? re es ein arges Missversta? ndnis, zu meinen,
dass jene sich bloss vorstellen, was die anderen ge-
niessen. Es gibt rein geistige Freuden, die kein
blosses Abbild der sinnlichen Freuden sind, sondern
etwas ganz anderes als diese. Die geistigen Freuden
sind die Freuden einer andern Welt, in welcher
die Sonne anders scheint, die Farben anders leuchten,
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? 96
die To? ne anders klingen, in welcher, mit einem
Wort, die Wirklichkeit wie ausgewechselt erscheint.
Es ist das die Welt, in der auch der Schaffende
lebt, solange er mit ganzer Seele beim Werk ist,
dieselbe Welt, die ma? rchenhaft scho? ne, von der
jedermann durch erste Liebe Kunde empfa? ngt.
Immerfort erste Liebe empfinden ist die tiefste Ab-
sicht der freiwillig Entsagenden. Das Paradies
nicht mehr verlieren!
Hierzu ist freilich ausser gutem Willen und heissem
Bemu? hen vor allem perso? nliche Eignung erforder-
lich, Generationsreife. In ihren grossen Geistern
kehrt die Menschheit wieder zum Paradies zuru? ck.
Diese Ru? ckkehr liegt am Ende der Entwicklung.
Die Entsagung der Letzten gleicht sich aus mit
dem Su? ndenfall der Ersten.
Es muss erwa? hnt werden, dass der Kampf gegen
die Sinnlichkeit nicht das einzig mo? gliche Ver-
ha? ltnis zu ihr ist. Man kann ein Bedu? rfnis vor
allem dadurch los werden, dass man es stillt. Und
es hat viele bedeutende Menschen gegeben, welche
sich, um Ruhe zu haben, auf diesen Tribut ein-
liessen. Andere dagegen fanden ihn schma? hlich
und griffen zum Mittel der Unterdru? ckung.
Diese Unterdru? ckung mit allen ihren Folgen be-
greift man nur recht, wenn man das Gesetz von
der Erhaltung der Energie auch auf die Lebens-
erscheinungen anwendet. Jeder Trieb ist eine spe-
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? 97
zifische Energieform und -quantita? t, die unter keinen
Umsta? nden verschwinden kann. Zweierlei ist mo? g-
lich: Erstens, dass der Trieb, unter hohen Druck
gesetzt, sich in eine andere Energieform verwandelt;
dass die Sinnlichkeit, ganz oder wenigstens zum
Teil, Geist wird. Die gelungene Unterdru? ckung,
besser gesagt Erdru? ckung, bringt dem U? berwinder
reichen Lohn. Wenn man von Abto? tung spricht,
darf man ja nicht glauben, dass dabei etwas ohne
A? quivalent vernichtet wird. Dergleichen gibt es in
der organischen Natur ebensowenig als in der an-
organischen. Nur unter dieser falschen Voraus-
setzung ist die Abto? tung sinnlos; sie wird aber
alsbald ho? chst sinnvoll, wenn man erkennt, dass
fu? r das Abgeto? tete etwas Besseres eintritt.
Wehe aber, wenn die Unterdru? ckung misslingt!
Wenn der Trieb bloss verdra? ngt wird, wenn er dem
gegnerischen Willen ausweicht und anscheinend
verschwindet, um dafu? r aus dem Hinterhalt zu ope-
rieren. Man kann den Trieb ruhig gewa? hren lassen;
wenn man ihn aber angreift, gibt es nur Sieg oder
Niederlage. Wer ihn nicht u? berwa? ltigt, der wird
selber u? berwa? ltigt. Das Innenleben eines solchen
Menschen gera? t in einen wahrhaft kla? glichen Zu-
stand. Wie von der zerdru? ckten Galle das Fleisch
bitter wird, so wird vom unterdru? ckten Geschlechts-
trieb die Seele schmutzig. Der Trieb, der gehindert
wird, sich auf seinem Gebiete zu beta? tigen, mischt
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 7
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? 98
sich dafu?
r auf allen Gebieten ein. Es gibt kein
sachgema? sses Denken, kein entsprechendes Fu? hlen
und Handeln mehr. Das gesamte Seelenleben wird
verfa? lscht. Die a? rgste Folge misslungener Unter-
dru? ckung ist aber die Triebverkehrung; wenn die
freundliche konservative Macht der Liebe mit einem
Mal in ihr Gegenteil umschla? gt und die eigene
Person bedroht oder die Umgebung, Menschen und
Dinge. Selbstmord und Verbrechen oder wenigstens
die dazu geho? rige Gemu? tsverfassung sind, wie all-
ta? gliche Beispiele erweisen, eine ha? ufige Folge ge-
hemmten Liebeslebens. --
In der Vorrede zu den ? Letzten Dingen" er-
fahren wir, dass Weininger kurz vor seinem Tode
von drei Mo? glichkeiten sprach, die ihm offen stu? nden:
Selbstmord, Galgen und ein Ziel, gro? sser und herr-
licher, als es je ein Mensch errungen. Weininger
hat nicht immer klar gesehen; aber seinem Scharf-
gefu? hl ist nichts entgangen. Jene drei Mo? glich-
keiten, so widersinnig und u? berspannt sie auf den
ersten Blick erscheinen, enthalten tatsa? chlich eine
geradezu wissenschaftliche Beschreibung seiner Lage.
Die ersten zwei Mo? glichkeiten sind die Folge der
missglu? ckten, die dritte Mo? glichkeit die Folge der
geglu? ckten Unterdru? ckung. Es liegt kein U? ber-
schwang in der Art, wie Weininger von dieser
dritten Mo? glichkeit spricht.
Was Weininger in der letzten Zeit seines Lebens
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? 99
erstrebte, la? sst sich mit einem Worte sagen: Heilig-
keit. Es ist durchaus nicht selten, dass das Heiligen-
ideal eben in jenen Jahren von der Seele Besitz
ergreift, in welchen die Sinnlichkeit am heftigsten
nach Geltung ringt. Vielleicht, dass gerade u? ber-
triebene Anforderungen der Sinnlichkeit zu einer
vollsta? ndigen Verweigerung fu? hren; dass, mit physi-
kalischer Gesetzma? ssigkeit, der Druck einen gleich-
wertigen Gegendruck hervorruft. Vor allem aber
passt das Heiligenideal sehr gut mit dem Begriff
der Genialita? t zusammen. Was der Heilige an-
strebt, Loslo? sung von allem Irdischen, das macht
nebst anderem auch das Wesen der Genialita? t aus.
In jedem Genie steckt ein Heiliger.
Weininger hat sein Werk eine ? prinzipielle
Untersuchung" genannt; das reine Gesetz sollte
erforscht werden, nicht dessen verwickelte, verstu? m-
melte, verku? mmerte A? usserung, die Wirklichkeit.
Prinzipiell wie im Denken war Weininger auch im
Handeln. Allein, Prinzipien taugen nicht als Grund-
lage des Handelns. Prinzipien gelten im Reiche des
Geistes, das Handeln aber verstrickt unvermeidlich
in die Wirklichkeit. Starre Prinzipien mu? ssen zur
Vernichtung der irdischen Perso? nlichkeit fu? hren, zu
einem Opfertod, den man nicht zu beklagen unter-
lassen kann, der aber anderseits das erhebendste
Schauspiel ist, welches die Welt u? berhaupt zu
bieten vermag.
7*
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
? 100
Weininger hat sein Ziel nicht erreicht. Aber es
war ein Ziel, dessen blosse Verfolgung schon adelt.
Die Gro? ssten darf man nicht nach dem bemessen,
was sie erreichen. Weininger war ein edler Mensch
und es gibt nichts in seinem Leben, was sich nicht
aus dieser Eigenschaft herleiten liesse.
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? 93
auch die Frage, ob das Geschlecht, Mann oder
Weib, fu? r die positive oder negative Wertung mass-
gebend sei. Der Konflikt zwischen Geist und Sinn-
lichkeit ist keineswegs auf den Mann beschra? nkt.
Das Weib, welches die Sinnlichkeit misswertet, kopiert
nicht einfach den Mann. Es gibt fortpflanzungs-
bedu? rftige Ma? nner, welche das Geschlechtsleben
genau so bewerten wie die Mu? tter. Es gibt Va? ter,
denen man dasselbe nachru? hmen und nachsagen
kann wie den Mu? ttern. Und es gibt hochbegabte
Frauen -- Frauen, die ihre Begabung nicht dem
ma? nnlichen Einschlag verdanken --, welche die
Sinnlichkeit ebenso werten wie der geniale Mann.
Die Generation kann eben mit Mann oder Weib
abschliessen. Es gibt zwar keine weibliche Genialita? t
-- u? berall, wo Genialita? t ist, findet man Ma? nnliches --,
dafu? r aber eine nur dem Weibe eigentu? mliche per-
so? nliche Vollkommenheit, welche der ma? nnlichen
Genialita? t in jeder Hinsicht analog ist, auch darin,
dass sie mit Interesselosigkeit an der Fortpflan-
zung und Abneigung gegen die Sinnlichkeit ver-
bunden ist.
Ungeachtet dieser grundsa? tzlichen Gleichheit
besteht aber zwischen dem geistigen Mann und der
geistigen Frau ein gewichtiger Unterschied. Bei
der offenkundigen Verschiedenheit des ma? nnlichen
und weiblichen Geschlechtslebens, ist von vorn-
herein zu erwarten, dass sich auch der Niedergang
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des Geschlechtslebens in verschiedener Form voll-
ziehen wird. Beim Mann tritt fu? r den Geschlechtstrieb
die Sinnlichkeit ein; das geistige Weib hingegen,
welches keinen Geschlechtstrieb im eigentlichen Sinne
hat, d. h. keine Fortpflanzungsabsicht, ist auch nicht
sinnlich, es na? hert sich wenigstens stark einem un-
geschlechtlichen und unsinnlichen, einem rein
geistigen Wesen. So entstehen jene lebendigen
Zeugen einer besseren Welt, die seit jeher das Ent-
zu? cken des schaffenden Mannes waren. Sie erfu? llen
seine Sehnsucht. Der Mann ringt mehr nach Geistig-
keit als das Weib, aber nur, weil er weiter von ihr
entfernt ist; wie denn u? berhaupt der Mann im Gegen-
satz zum Weibe nichts besitzt, sondern alles erst
erka? mpft oder auch bloss anstrebt. Das Beste an
ihm ist die Sehnsucht und der gute Wille. Gross
und vollkommen ist der Mann nur in seinen Werken,
vermutlich eben wegen des Ungenu? gens an seiner
Person. --
Der Kampf zwischen Geist und Sinnlichkeit
bringt, wie jeder Kampf, eine Menge Ungemach
mit sich. Dieses innere Ungemach ist aber nicht
Krankheit; und deshalb haben die darunter Leidenden
auch gar kein Bestreben geheilt zu werden. Ihr
Bedu? rfnis nach Hilfe wird oft missverstanden; sie
suchen Hilfe im Kampf, nicht Abhilfe gegen den
Kampf. Mit dem Ratschlage nachzugeben ist
nicht jedermann gedient. Gesund, in der u? blichen
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Bedeutung des Wortes, ko? nnte ja mancher auf diese
Art werden, ob aber auch glu? cklicher? Es gibt nun
einmal Menschen, denen eine Su? nde wider den
Geist schmerzlicher ist als die Kriegsno? te in ihrer
Brust. Behaglicher Friede lockt hervorragende
Menschen nicht. Auch sie kennen das Bedu? rfnis
danach; aber sie haben ho? here Bedu? rfnisse, denen
sie jenes irdische mit ru? cksichtsloser Ha? rte gegen
sich selbst unterordnen.
Es wa? re u? brigens falsch zu glauben, dass der
Asket fu? r seine Anstrengungen nur Leiden erntet.
Sein Beginnen ist nicht so wahnwitzig, als es aus-
sieht. Den Leiden entsprechen Freuden, ja Wonnen,
von denen sich das Weltkind nichts tra? umen la? sst.
Vielleicht sind es nur spa? rliche Augenblicke der
Wonne, aber doch hinreichend, jahrelange Mu? hsal
aufzuwiegen. Fu? r diese Kompensation gelten keine
arithmetischen Grundsa? tze. Der Asket ist der feinste
Lebensku? nstler. Seine Entbehrungen sind klug be-
rechnet. Mit der Liebesseligkeit enthaltsamer Kloster-
bru? der la? sst sich kein Sinnesgenuss vergleichen. Da-
bei wa? re es ein arges Missversta? ndnis, zu meinen,
dass jene sich bloss vorstellen, was die anderen ge-
niessen. Es gibt rein geistige Freuden, die kein
blosses Abbild der sinnlichen Freuden sind, sondern
etwas ganz anderes als diese. Die geistigen Freuden
sind die Freuden einer andern Welt, in welcher
die Sonne anders scheint, die Farben anders leuchten,
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
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die To? ne anders klingen, in welcher, mit einem
Wort, die Wirklichkeit wie ausgewechselt erscheint.
Es ist das die Welt, in der auch der Schaffende
lebt, solange er mit ganzer Seele beim Werk ist,
dieselbe Welt, die ma? rchenhaft scho? ne, von der
jedermann durch erste Liebe Kunde empfa? ngt.
Immerfort erste Liebe empfinden ist die tiefste Ab-
sicht der freiwillig Entsagenden. Das Paradies
nicht mehr verlieren!
Hierzu ist freilich ausser gutem Willen und heissem
Bemu? hen vor allem perso? nliche Eignung erforder-
lich, Generationsreife. In ihren grossen Geistern
kehrt die Menschheit wieder zum Paradies zuru? ck.
Diese Ru? ckkehr liegt am Ende der Entwicklung.
Die Entsagung der Letzten gleicht sich aus mit
dem Su? ndenfall der Ersten.
Es muss erwa? hnt werden, dass der Kampf gegen
die Sinnlichkeit nicht das einzig mo? gliche Ver-
ha? ltnis zu ihr ist. Man kann ein Bedu? rfnis vor
allem dadurch los werden, dass man es stillt. Und
es hat viele bedeutende Menschen gegeben, welche
sich, um Ruhe zu haben, auf diesen Tribut ein-
liessen. Andere dagegen fanden ihn schma? hlich
und griffen zum Mittel der Unterdru? ckung.
Diese Unterdru? ckung mit allen ihren Folgen be-
greift man nur recht, wenn man das Gesetz von
der Erhaltung der Energie auch auf die Lebens-
erscheinungen anwendet. Jeder Trieb ist eine spe-
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zifische Energieform und -quantita? t, die unter keinen
Umsta? nden verschwinden kann. Zweierlei ist mo? g-
lich: Erstens, dass der Trieb, unter hohen Druck
gesetzt, sich in eine andere Energieform verwandelt;
dass die Sinnlichkeit, ganz oder wenigstens zum
Teil, Geist wird. Die gelungene Unterdru? ckung,
besser gesagt Erdru? ckung, bringt dem U? berwinder
reichen Lohn. Wenn man von Abto? tung spricht,
darf man ja nicht glauben, dass dabei etwas ohne
A? quivalent vernichtet wird. Dergleichen gibt es in
der organischen Natur ebensowenig als in der an-
organischen. Nur unter dieser falschen Voraus-
setzung ist die Abto? tung sinnlos; sie wird aber
alsbald ho? chst sinnvoll, wenn man erkennt, dass
fu? r das Abgeto? tete etwas Besseres eintritt.
Wehe aber, wenn die Unterdru? ckung misslingt!
Wenn der Trieb bloss verdra? ngt wird, wenn er dem
gegnerischen Willen ausweicht und anscheinend
verschwindet, um dafu? r aus dem Hinterhalt zu ope-
rieren. Man kann den Trieb ruhig gewa? hren lassen;
wenn man ihn aber angreift, gibt es nur Sieg oder
Niederlage. Wer ihn nicht u? berwa? ltigt, der wird
selber u? berwa? ltigt. Das Innenleben eines solchen
Menschen gera? t in einen wahrhaft kla? glichen Zu-
stand. Wie von der zerdru? ckten Galle das Fleisch
bitter wird, so wird vom unterdru? ckten Geschlechts-
trieb die Seele schmutzig. Der Trieb, der gehindert
wird, sich auf seinem Gebiete zu beta? tigen, mischt
Swoboda, Otto Weiningers Tod. 7
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sich dafu?
r auf allen Gebieten ein. Es gibt kein
sachgema? sses Denken, kein entsprechendes Fu? hlen
und Handeln mehr. Das gesamte Seelenleben wird
verfa? lscht. Die a? rgste Folge misslungener Unter-
dru? ckung ist aber die Triebverkehrung; wenn die
freundliche konservative Macht der Liebe mit einem
Mal in ihr Gegenteil umschla? gt und die eigene
Person bedroht oder die Umgebung, Menschen und
Dinge. Selbstmord und Verbrechen oder wenigstens
die dazu geho? rige Gemu? tsverfassung sind, wie all-
ta? gliche Beispiele erweisen, eine ha? ufige Folge ge-
hemmten Liebeslebens. --
In der Vorrede zu den ? Letzten Dingen" er-
fahren wir, dass Weininger kurz vor seinem Tode
von drei Mo? glichkeiten sprach, die ihm offen stu? nden:
Selbstmord, Galgen und ein Ziel, gro? sser und herr-
licher, als es je ein Mensch errungen. Weininger
hat nicht immer klar gesehen; aber seinem Scharf-
gefu? hl ist nichts entgangen. Jene drei Mo? glich-
keiten, so widersinnig und u? berspannt sie auf den
ersten Blick erscheinen, enthalten tatsa? chlich eine
geradezu wissenschaftliche Beschreibung seiner Lage.
Die ersten zwei Mo? glichkeiten sind die Folge der
missglu? ckten, die dritte Mo? glichkeit die Folge der
geglu? ckten Unterdru? ckung. Es liegt kein U? ber-
schwang in der Art, wie Weininger von dieser
dritten Mo? glichkeit spricht.
Was Weininger in der letzten Zeit seines Lebens
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erstrebte, la? sst sich mit einem Worte sagen: Heilig-
keit. Es ist durchaus nicht selten, dass das Heiligen-
ideal eben in jenen Jahren von der Seele Besitz
ergreift, in welchen die Sinnlichkeit am heftigsten
nach Geltung ringt. Vielleicht, dass gerade u? ber-
triebene Anforderungen der Sinnlichkeit zu einer
vollsta? ndigen Verweigerung fu? hren; dass, mit physi-
kalischer Gesetzma? ssigkeit, der Druck einen gleich-
wertigen Gegendruck hervorruft. Vor allem aber
passt das Heiligenideal sehr gut mit dem Begriff
der Genialita? t zusammen. Was der Heilige an-
strebt, Loslo? sung von allem Irdischen, das macht
nebst anderem auch das Wesen der Genialita? t aus.
In jedem Genie steckt ein Heiliger.
Weininger hat sein Werk eine ? prinzipielle
Untersuchung" genannt; das reine Gesetz sollte
erforscht werden, nicht dessen verwickelte, verstu? m-
melte, verku? mmerte A? usserung, die Wirklichkeit.
Prinzipiell wie im Denken war Weininger auch im
Handeln. Allein, Prinzipien taugen nicht als Grund-
lage des Handelns. Prinzipien gelten im Reiche des
Geistes, das Handeln aber verstrickt unvermeidlich
in die Wirklichkeit. Starre Prinzipien mu? ssen zur
Vernichtung der irdischen Perso? nlichkeit fu? hren, zu
einem Opfertod, den man nicht zu beklagen unter-
lassen kann, der aber anderseits das erhebendste
Schauspiel ist, welches die Welt u? berhaupt zu
bieten vermag.
7*
? ? Generated for (University of Chicago) on 2014-08-19 08:37 GMT / http://hdl. handle. net/2027/njp. 32101068184017 Public Domain in the United States, Google-digitized / http://www. hathitrust. org/access_use#pd-us-google
? 100
Weininger hat sein Ziel nicht erreicht. Aber es
war ein Ziel, dessen blosse Verfolgung schon adelt.
Die Gro? ssten darf man nicht nach dem bemessen,
was sie erreichen. Weininger war ein edler Mensch
und es gibt nichts in seinem Leben, was sich nicht
aus dieser Eigenschaft herleiten liesse.
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